21. Jahrgang | Nummer 23 | 5. November 2018

Windstille

von Heino Bosselmann

Es mag eine Befreiung darin liegen zu konstatieren: Wir, der Westen insgesamt, Amerika ohnehin, befinden uns in einer Phase untergehender Kultur. Kein Grund, eine Krankheit zu bejammern oder zu verdrängen, deren Symptome allzu deutlich sind. Leben mit dem Krebs muss möglich sein.
Sicher, die Systeme, oftmals überkomplex, daher fragil und angreifbar, funktionieren, jedenfalls die technischen und ökonomischen, jedenfalls für die meisten. Die Konsumenten stoffwechseln noch, mehr denn je. Und all die Unterhaltungssender senden. Dank Intensivmedizin und Dialysezentren steigt die Lebenserwartung, so dass Deutschland und andere Industrieländer zu gerontologischen Versorgungsgesellschaften hinüberaltern. Eher schlecht als recht, aber auch das wird anständig verdatet und verwaltet. Überhaupt leben hierzulande beinahe fünfzig Prozent von Transferleistungen. Das ist humanitär gesehen lobenswert, soziologisch ist es ein Signal, und quergerechnet in ähnlicher Weise ein Luxus wie die immensen Gewinne der klügsten oder kaltblütigsten Geldmacher. Regiert wird das alles von einer sich tugendhaft gebenden Kraft mit mystisch anmutender Selbstbezeichnung – der Mitte.
Dass es im Produzieren und Verbrauchen weitergeht und dennoch im Schatten des Blasen-Booms eine ideelle Krise einsetzen mag, die Wendungen vorbereitet, zeigt das Beispiel Deutschlands und Europas in einer Zeit mit der beredten Bezeichnung „Fin de siècle“. Wenn die Nation je Großmacht war – industriell, militärisch, sogar sozial gesichert –, dann um 1900. Eine hohe Zeit für die Wissenschaften, die Ingenieure, die Literatur. Was für eine Reihe großer Namen von Albert Einstein bis Max Weber! Was für ein Spektrum in den Künsten von Worpswede bis zur Berliner Sezession und zur Dresdener Brücke! Zudem vielleicht die letzten Jahre ganz großer Musik – noch Bruckner, schon Mahler, bald Schönberg.
Und doch: Bei aller Prosperität – welche Erschöpfung! Oder Poetisch ausgedrückt:

Weltende

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
in allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehen entzwei
und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

(Jakob van Hoddis, 1911)

Was für eine Weltende-Stimmung, obwohl das Leben, meint man, ungleich vitaler pulste – auf dem Potsdamer Platz ebenso wie auf den Gütern Ostelbiens. Immerhin genoss noch jeder, wenngleich nach unten bescheiden, die heute so oft beschworene, aber meist erledigte Teilhabe am Gesellschaftlichen. Die Arbeiterbewegung entwickelte eine eigene Lebenskultur und schritt voller Kraft und Zuversicht dem Morgenrot entgegen. Sogar diejenigen, die am wenigsten hatten, die Landarbeiter, erlebten sich auf ihre Weise und an ihrer Stelle als wichtig, weil sie gebraucht wurden, selbst der polnische Schnitter und der Kutscher, der Getreide zur Mühle fuhr und nach Feierabend die Pferde pflegte. Dazu die Beamten als versorgte Entscheidungsträger, die Lehrer als vielleicht kauzige, aber durchgebildete Persönlichkeiten, in den Städten die Bohemiens und Lebenskünstler, die Schnorrer und Tagediebe.
Mit Ausnahme Russlands, dessen Revolution von 1905 wie ein Menetekel ausbricht, schien Europa gesund. Der heutzutage rundweg negativ konnotierte Imperialismus kann bei allen beschworenen Konflikten als Zeitalter politischer Kraft und Stärke gelten. Was immer man davon halten mag: Die europäischen, amerikanischen und japanischen Zeitgenossen erlebten ihre Nationen nicht als Krisenfälle. Die ganze Gesellschaft fand sich mobilisiert und hielt sich arbeitend lebendig.
Aber obwohl die Schlote damals rauchten, malte Edvard Munch seinen „Schrei“, den furchterregenden Blick auf ein furchtbares Jahrhundert. Über dessen Portal könnten wie ein Motto die Worte von Nietzsches vereinsamtem Wanderer stehen, der in einer modernen Winterreise fatalerweise seine sichere Stadt verließ, alle Brücken hinter sich abbrechend:

„Die Welt – ein Thor
Zu tausend Wüsten stumm und kalt.
Wer das verlor,
Was du verlorst, macht nirgends halt.“

Tatsächlich machte das neue Jahrhundert, das zwanzigste, dann nirgendwo halt und ließ keine vorher unvorstellbare Grausamkeit aus. Die Historie schien zu pathologisieren. Empfindsame Gemüter beherrschte die Ahnung einer großen Entgrenzung, die neben Befreiung und Belebung einem geschichtlichen Horror die Tore öffnete, der so vom Vorjahrhundert kaum gedacht werden konnte. Man denke an Franz Kafka, einerseits als Visionär der neuen Entfremdung, andererseits der totalitären Gleichschaltungen, der Straflager und einer Angst, die über den Dächern liegt wie in Graphiken von Alfred Kubin. Alles Neue beginnt mit dramatischer Ambivalenz, aber es mag sein, das Luziferische, durchaus im Sinne des Lichts, überwiegt. Dazu trommelte Georg Heym in „Der Gott der Stadt“ den Rhythmus des Korybantentanzes.
Parallelen zur Gegenwart konstruieren zu wollen wäre vermessen. Aber ebenso wie damals scheint die Ökonomik eines Zeitalters mit seiner geistigen Kraft nicht in direkter Proportionalität zu stehen. Noch einmal zurück: Schwebte nicht der drohende Weltkrieg wie ein apokalyptischer Vollzug über dieser „Belle Epoque“ der „Decadence“, wüsste man den großen Unterschied zum Heutigen zu benennen: Im Gegensatz zur Gegenwart der ideellen Stagnation und Verphrasung verfügte jene Zeitenwende über expressiven Ausdruck und suchte begeistert nach immer neuen Formen und Varianten davon. All die beginnenden Reformbewegungen und Auf- beziehungsweise Ausbrüche versorgten das Bedürfnis nach Neubeginn mit Zielvorstellungen und vor allem mit Mythen, Begriffen, Metaphern, Symbolen, Bildern und Klängen. Gab es je, abgesehen vom Zeitalter der Glaubensspaltung und eventuell der Aufklärung, eine größere Dynamik des Gedanklichen, die zur Tat drängte?
„Jede Zeit ist Übergangszeit. Aber niemals ist es am Ende einer Periode einer Generation so klar gewesen wie den Menschen um 1900, dass das nächste Jahrhundert einen anderen, vor allem einen bestimmteren, ausgesprocheneren Charakter tragen werde und tragen müsse als das letzte Jahrzehnt des zu Ende gehenden neunzehnten. Und so lebten sie nicht nur tatsächlich in einer Übergangsperiode, sondern – das ist der tiefere Sinn von ‚Fin de siècle’ – sie fühlten sich auch als Menschen des Übergangs. Übergangszeit aber ist böse Zeit, vor allem, weil in ihr die Gedanken und Gefühle auf allen Punkten zwiespältig geworden sind. (…) ein Festhalten und Sichanklammern an das Bestehende, als wäre es durchweg ein Vernünftiges und bleibend Wertvolles, und auf der anderen Seite ein Anstürmen gegen dieses Bestehende, als wäre es bereits von allen guten Geistern der Vernunft und der Sittlichkeit verlassen und könnte nicht eilig genug bis zum letzten Baustein abgetragen und in Trümmer geschlagen werden; dem historischen Sinn des Jahrhunderts trat ein revolutionärer Sturm und Drang gegenüber.“

So der Philosoph Theobald Ziegler als Chronist der Epoche. Das einerseits gefürchtete, andererseits herbeigesehnte Welt-Ende stand nicht für ein Armageddon der absoluten Endzeit, sondern meinte zwischen den Rissen des produktiv lustvollen Zerstörungswerkes schon das Schimmern eines feinen Lichtes wahrzunehmen, das Zeugnis eines noch nicht näher bestimmbaren Zukünftigen, Kommenden, Erlösenden. Auch Gottfried Benns „dunkelhellila Aster“ aus seinem ersten Morgue-Gedicht ist vom Kolorit dieser verlebendigenden Auferstehung, eingenäht in die Leiche eines „ersoffenen Bierfahrers“.
Und heute? Noch sind die alten, zunehmend verbrauchten Begriffe im Schwange, all die euphemistischen Propagandismen. Noch herrschen „Grundvereinbarungen“, die eigentlich kaum jemand je vereinbart hat. Dazu die Agitation der politischen Umsonst-Broschüren mit den lebensfrohen, schicken Optimismusgesichtern einer Jugend mit sehr reiner Haut, der Multikultifolklore und einer beängstigend tollen Stimmung – als Ikonographie schon so stereotyp abgebildet wie vormals in totalitären Staaten. Angesichts zunehmender Selektion im Sozialen wird der Schutz durch Antidiskriminierungsgesetze und allgemeine Inklusion suggeriert und werden Bürgerrechte betont, die eine Mehrzahl schon nicht mehr beansprucht, wenn sie sich nur materiell gesichert und versorgt sieht.
Sollte man auf einen Aufbruch, auf eine Wende wenigstens in kultureller Gestalt hoffen dürfen? Zunächst desillusionierend: Rein verhältnismäßig dürfte es nie so wenig Jugend in Deutschland gegeben haben. Damit fehlt von vornherein der Überhang einer kritischen Masse Jugendlichkeit, ein „Youth Bulge“ – im frühen zwanzigsten Jahrhundert leider den Schützengräben geweiht, 1968 ff. nach den Turbulenzen der antiautoritären Revolte von Bürgersöhnchen in ein neues Spießertum des zunächst berufsalternativen Milieus und von dort in die neue Mitte mündend.
Im rein Quantitativen also wenig Kraft. Im Qualitativen mindestens sichtbar kaum Inspiration oder – wie man früher gesagt hätte – Beseeltheit. Ein allzu großer Teil verdämmert bei den angebotenen Primitivmustern sogenannten TV-Kult-Trashs: Ganze Gymnasialklassen schauen mit übereinstimmender Begeisterung Youtube-Influenzern und billigen Serien zu und verkleistern sich damit die Vorstellungswelt. Und selbst wer dem gegenüber Abstinenz übt, ist noch nicht Zeitungsleser oder irgendwie engagiert. Jene, die selbst dazu finden, kopieren eher elterliche Entwürfe, ob nun in Bezug auf Karriereplanungen oder politisch. Meist sehr leidenschaftslos, mit wenig Puls und flachen Amplituden. Es bildeten sich zwar interessante Subkulturen heraus, verbleiben aber grundsätzlich im „Lifestyle-Bereich“ und radikalisieren sich nicht in einer Weise, dass es gesellschaftlich interessant oder gar entzündlich wirkte.
Die Bildung, früher notwendiger Hintergrund jeder Neuorientierung, ist mittlerweile das Hauptsymptom der ideellen Krise. Völlig gefangen in der politisch suggerierten Vorstellung, einst hochwertige Abschlüsse wären einfacher durch die Reduktion von Inhalten und die Verbilligung der Bewertungen zu erreichen, verdient insbesondere das Gymnasium seinen für Deutschland traditionsreichen Namen nicht mehr, während für die übrigen Abschlüsse grundsätzlich kaum noch Herausforderungen oder gar echte Prüfungen zu bewältigen wären. Bildung im ursprünglichen Sinne und mit Niveau ist eher trotz des Bildungssystems oder am besten außerhalb davon zu erlangen. Immerhin: Jede Wende ist die große Stunde der Autodidakten!
Gingen die Neuorientierungen um 1900 vor allem von jungen Leuten mit höherer Schulbildung aus, ist genau von dieser Seite derzeit kein entscheidender Impuls zu erwarten. Vielleicht braucht es dazu doch eher der klugen Unterprivilegierten und deren Mutes zur Aktion.
Und politisch? Empört Euch? – Demokratie dürfte entgegen der Selbstdarstellung der Politik nur noch für eine nachdenkliche Minderheit ein relevantes Thema sein; dem größten Teil wird es vor allem um eine andere Teilhabe gehen, jener am Konsum. Der angebissene Macintosh-Apfel des Apple-Logos ist für die meisten längst wichtiger als der Adler auf Schwarzrotgold. Als Demokratie würde den meisten eine vom Zuschnitt „Facebooks“ völlig ausreichen. Weltanschauliche Simplifizierung.
Wenn aber dann unter den Wacheren plötzlich der Begriff der Authentizität oder der Identität zu einem Bezugswort wird und auf eine Selbstbesinnung hindeutet, die wieder nach Positionierungen sucht, wenn dann also die Posaune doch das Signal zum Aufbruch bläst, zugleich allerdings eine völkisch orientierte, kulturrassistische Marschrichtung vorgibt, dann, ja dann sind wir unter Umständen ganz schnell wieder da, wo wir spätestens ab 1933 schon einmal waren. Die Segel dagegen sollte man bereits bei Windstille setzen …Oder, wie nicht nur Kästner erst im Nachgang erkannt hatte, 1933 hätte spätestens 1928 verhindert werden müssen!