von Bernhard Romeike
Geheimdienste sind Geheimdienste weil sie im Geheimen agieren. Die Figur James Bond hat nicht nur die Lizenz zum Töten, sondern sollte auch aller Welt zeigen, dass Großbritannien über den besten Geheimdienst der Welt verfügen würde. Die amerikanische CIA hat im Kalten Krieg Dutzende Regierungen gestürzt und Regimewechsel veranstaltet. Nach dessen Ende hat das nicht aufgehört. Auf dem Kiewer Maidan beispielsweise war das zu besichtigen.
Die Dienste sind stets bestrebt, ihre Existenz und ihr Tun zu verbergen. Die Betroffenen und die Öffentlichkeit sollen nichts merken vom Geheimen Dienst, oder erst dann, wenn es entweder bereits zu spät ist oder eine spektakuläre Aktion in die Medien gespült wird, deren Spuren im Dunkeln liegen. Deshalb gehört es seit je zu diesem Gewerbe, dass Dienste Dienste auszuspionieren und auszuschalten versuchen – Schattenkrieger unter sich. Der britische gegen den deutschen Geheimdienst war ein Dauerbrenner in der ersten Hälfte, der US-amerikanische sowie britische gegen den sowjetischen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der britische gegen den russischen war seit dem 19. Jahrhundert ein ständiges Thema, als es mit „The Great Game“ um die Vorherrschaft in Zentralasien ging.
Der „Fall Skripal“ scheint eine Fortsetzung jenes alten Spiels. Er war Doppelagent der Russen und der Briten. Nur dieser? Zwischendurch soll er noch für einen ukrainischen Oligarchen gearbeitet haben, der später ermordet wurde. Wer hat nun also versucht, diesen Skripal zu vergiften? Warum sollte Russland Interesse haben, einen ehemaligen Agenten zu ermorden, der zuvor im russischen Gefängnis saß, entlassen wurde und ausreisen durfte? Ihn aus dem Weg zu räumen, hätte man im russischen Gefängnis einfacher haben können. Er wohnt, wie es heißt, in einem Haus, das der britische Auslandsgeheimdienst MI6 finanziert. Überwachen die das Haus nicht? Dort sollen nun minderbemittelte russische Agenten einen Vergiftungsversuch unternommen haben, der noch dazu scheiterte? Am Haus keine Videoüberwachung. Aber nach wochenlangen Auswertungen unzähliger Videoaufnahmen will die britische Polizei die Täter identifiziert haben.
Es gibt unzählige Ungereimtheiten. Die britische Regierung teilte jedoch unmittelbar nach dem tatsächlichen oder vermeintlichen Tötungsversuch mit, der russische Geheimdienst und am Ende Präsident Putin höchstselbst würden dahinter stecken. Ohne viel Federlesens wurden sofort, unverzüglich Diplomaten ausgewiesen und weitere Sanktionen gegen Russland verhängt. Nicht nur durch Großbritannien, auch die USA und andere NATO- und EU-Länder taten dies, darunter Deutschland. Außenminister Maas zeigte besonderen Eifer. Bis heute gibt es keine belastbaren Beweise, nur Indizien, Mutmaßungen und Interpretationen. Lediglich ein „Sehr wahrscheinlich“ – was ein recht mageres Ergebnis ist.
Das Ganze begann im März. Zeitgleich schoben die USA und andere NATO-Staaten eine neuerliche Drohkulisse gegen den syrischen Präsidenten Assad zusammen: Wenn in Syrien Chemiewaffen eingesetzt würden beim Sturm auf die letzte Islamisten-Enklave in der Provinz Idlib, dann würde massiv bombardiert werden. Russland dagegen warnte, die Regime-Gegner würden den Einsatz von Chemiewaffen vorbereiten – die sogenannten Weißhelme berichteten stets dann von vorgeblichen Chemiewaffeneinsätzen, wenn die Regierungstruppen im Vormarsch waren. Sie dienten jedoch stets westlichen „Vergeltungs“-Schlägen als Vorwand. So erklärte Russland, neue Flugabwehr-Raketen nach Syrien zu liefern, die westliche Flugzeuge oder Flügelraketen gegebenenfalls abzuschießen in der Lage sind. Der Fall Skripal sollte nun dafür herhalten, Russland nicht nur als Paten des Chemiewaffeneinsetzers Assad zu diffamieren, sondern ihm selbst den Einsatz verbotener chemischer Kampfstoffe anzudichten.
Die eigentlich interessante Frage nun ist, warum ausgerechnet Großbritannien immer wieder antirussische Spielchen spielt. Hängt das vielleicht mit seinem eigenen Platz in der Weltpolitik, mit dem Verlust eigener Weltbedeutung zusammen? Der britische Historiker Niall Ferguson stellte bereits vor zwanzig Jahren die „kontrafaktische“ Frage: „Was wäre gewesen, wenn Großbritannien sich 1914 aus dem Krieg herausgehalten hätte? Wäre der Erste Weltkrieg nie ausgefochten worden, dann hätte die Konsequenz schlimmstenfalls so etwas wie ein erster kalter Krieg sein können, in dem fünf Großmächte weiterhin große Streitkräfte unterhalten, ohne jedoch ihr eigenes nachhaltiges ökonomisches Wachstum zu bedrohen. Wenn man andererseits einen Krieg geführt hätte, aber ohne Beteiligung Großbritanniens und der Vereinigten Staaten, dann hätten die siegreichen Deutschen wohl acht Jahrzehnte vor der Zeit eine Version der Europäischen Union geschaffen. […] Wäre Großbritannien […] im Abseits geblieben, hätte Kontinentaleuropa in etwas umgebildet werden können, das der Europäischen Union, wie wir sie heute kennen, nicht unähnlich gewesen wäre, jedoch ohne die massive Schwächung der britischen Macht in Übersee als Konsequenz der Beteiligung an zwei Weltkriegen.“ Der Hintersinn dieser Überlegung ist klar: Wären die Briten 1914 nicht in den ersten Weltkrieg gezogen, hätten sie ihr Empire wohl heute noch.
Andere Historiker kamen nach dem Studium der britischen Akten zu dem Ergebnis, in den außenpolitischen Eliten des Landes herrschte Anfang des 20. Jahrhunderts die Auffassung vor, dass sich Großbritannien in seiner Weltpolitik an die gefährlichsten Feinde anlehnen sollte, was unter der damaligen Perspektive Russland und Frankreich waren. Ein „unfreundliches Deutschland“ sei bei weitem einem unfreundlichen Frankreich oder Russland vorzuziehen. Ohne Frage betrachtete London das erstarkende Deutschland mit großem Misstrauen, aber es war vor allem die Angst vor dem unangreifbar erscheinenden Zarenreich, die Großbritannien von einer neutralen und ausgleichenden Haltung vor 1914 zurückschrecken ließ. Die britische Politik war in eine Sackgasse geraten, mit dem Ergebnis, dass Großbritannien letztlich vor allem aus Angst vor Russland – und nicht etwa vor dem Deutschen Reich – in den Krieg eintrat.
Mit dem Brexit geht Großbritannien den nächsten Schritt in die weltpolitische Bedeutungslosigkeit, wird endgültig zum Schatten seiner Geschichte, zur Schattenmacht. Das Aufbauschen des Falles Skripal soll der britischen Regierung dazu dienen, von dieser Tatsache und zugleich von den Schwierigkeiten der Brexit-Verhandlungen abzulenken und die britischen Wähler zu täuschen. Zugleich ist es eine Art „nachträglicher Rationalisierung“: Man rächt sich an dem heutigen Russland dafür, dass man es 1914 für stärker hielt, als es war, und missgönnt ihm seine wieder stärkere internationale Rolle, trotz der Niederlagen im ersten Weltkrieg und in Gestalt des Endes der Sowjetunion.
Schlagwörter: Bernhard Romeike, Brexit, Empire, Großbritannien, MI6, Russland, Skripal