von Reinhard Wengierek
„Chemnitz ist weder grau noch braun.“ Stolze Behauptung, weithin sichtbar gedruckt mit bunten Buchstaben auf ein Tuch am Sockel vom Nischel. Nischel, auf hochdeutsch „Kopf“, meint die perfekt proportionierte Monumentalplastik des sowjetischen Bildhauers Lew Kerbel vom Schädel des Karl Marx vor der Fassade ehemaliger Zentralen sozialistischer Planwirtschaft. Heute residiert hier das Finanzamt.
Das Plakat der Bürgeraktion „wirsindmehr“ hat insofern recht, dass die im Krieg schwer zerstörte, nach sowjetischer Demontage trotz Planwirtschaft halbwegs wieder hergestellte, dann wiederum durch die radikale, selbst gegenüber dem wenigen Erhaltenswerten aus dem DDR-Erbe rücksichtslose Abwicklungspolitik der Treuhandgesellschaft schwer beschädigte, dass diese traditionsreiche Industriestadt am Erzgebirgsrand sehr viel mehr Farben hat als viele sich vorstellen können. Immerhin wurde inzwischen ja mit viel Geld (Aufbau Ost!) und vielseitigem Engagement allerhand wieder hergestellt und neu gebaut. Man kann es auch so sehen: Eine lebendige, dabei seltsam (oder faszinierend?) oszillierende Stadt zwischen Abriss und Aufbau.
Oder kennen Sie das an historischem Ost so ausladend wie prachtvoll installierte Industriemuseum, das von den teils durch Weltklasse-Innovationen befeuerten Spitzenleistungen seit rund 200 Jahren erzählt – etwa im Apparate- und Maschinenbau (die erste Dampflok der Sachsen, 1876 gebaut von einem eingewanderten Elsässer oder die zuletzt wieder hochmoderne Textilindustrie: das sächsische Manchester, sogar noch zu DDR-Zeiten). Daneben die Chemiebranche (Erfindung des ersten Feinwaschmittels der Welt Marke „Fewa“); die vielen mittleren Unternehmen mit Erfindergeist wie die „Continental“-Schreibmaschine des Konstrukteurs Julius Mohr von 1904 oder die Fahrradproduktion der Marke „Wanderer“.
Man darf ohne Übertreibung sagen: Die Gegend um Chemnitz glich zeitweilig dem, was heutzutage Silicon Valley bedeutet. Sie generierte einst Deutschlands höchstes Steueraufkommen. Selbst in der Karl-Marx-Stadt-Ära funktionierten die offensichtlich unkaputtbaren lokalen Tüftler-Gene und führten zu Ostblock-Spitzentechnik. Auch davon ist mit begreiflichem Stolz die Rede in besagtem Industriemuseum an der Zwickauer Straße.
Vom Abglanz alten Reichtums zeugen noch heute das pompöse Rathaus, die ein ganzes Stadtgebiet umfassende, aufwändig restaurierte Wohnsiedlung im Jugendstil Kassberg oder die Sammlung von Kunst der klassischen Moderne im Museum Gunzenhausen (Otto Dix, die „Brücke“-Maler). Und mit dem etwas weiteren Blick zurück präsentiert das Schlossbergmuseum eine erlesene Sammlung regionaler mittelalterlicher Schnitzkunst – die schönen Madonnen…
Das wuchtige kaiserzeitliche Opernhaus war natürlich 1945 auch nur noch eine ausgebrannte Hülle, doch schon zwei Jahre später begann der Wiederaufbau – bis 1952. Noch kurz vorm Ende der DDR begann die drängende Rekonstruktion. Ende 1992 war alles fertig und vom Feinsten. Außen Historismus, innen unsichtbar High-Tech und sichtbar die kühle Eleganz der Moderne. Zur Einweihung mit dem Mut und der Kraft fürs Außerordentliche Wagners „Parsifal“. Man denkt gern groß in Sachsen.
Die gegenwärtige Intendanz unter Christoph Dittrich hat sich den Sinn für Mut und Größe bewahrt. Beispielsweise mit der Epoche machenden Wiederentdeckung des seit Ewigkeiten in den Archiven ruhenden Meyerbeerschen Monumentalwerks „Vasco da Gama“ anno 2013. Oder die anlässlich des 875. Stadtjubiläums erfolgte Neuproduktion von Richard Wagners „Ring“, der soeben mit der Premiere „Götterdämmerung“ geschlossen wurde.
Und jetzt also wieder ein Coup dieses offensichtlich pfiffigen Operninstituts: Nämlich die deutsche Erstaufführung der Oper „Hamlet“ von Franco Faccio und Arrigo Boito.
Um genau zu sein: Der kühne Griff ins weithin Unbekannte fand bereits vor zwei Jahren in Österreich statt zu den Bregenzer Festspielen. Er gelang der Festival-Intendantin Elisabeth Sobotka mit ihrem Spürsinn für versteckt schlummernde Delikatessen, der wiederum einhergeht mit einer gehörigen Portion Mut. Denn der Aufwand ist enorm (herausfordernde Gesangspartien, Chor, Ballett, Statisterie). Doch leider, die übergroße Mehrheit des Publikums stürzt sich mit sturer Vorliebe vornehmlich auf allgemein Bekanntes, am liebsten auf die eingespielten Italo-Klassiker Verdi/Puccini und höchstens noch Rossini. Aber es ist nun einmal so: Auch der subventionierte Kunstbetrieb muss gut Kasse machen – aber immer bloß mit dem Rauf- und Runterspielen der Hitparadenklassiker…?
Und wer schon kennt Franco Faccio? – Bei Boito wissen einige Bescheid: Der Librettist von Verdi. Aber „Hamlet“ kennt man nur von Shakespeare; selbst Richard Wagner, so die Saga, hielt – warum eigentlich? – eine Veroperung des Dänen-Spektakels für unmöglich. Womöglich hat gerade auch diese Warnung aus prominentestem Munde die beiden befreundeten Jungkünstler Faccio & Boito angestachelt (sie waren gerade Anfang Zwanzig), ihr eigenes „Hamlet“-Ding zu drehen mit allen Schikanen der großen (italienischen) Opernkunst (hochdramatische Soli, monumentale Ensembles). Obendrein deklarierten die genialischen Feuerköpfe ihr mit heiligem Ernst, antikischer Wucht und konfliktstarker Wahrhaftig geschriebenes Werk als avantgardistisches Manifest eines „nuovo melodramma“, das sich abzuwenden versucht vom sturen Prinzip der Nummernoper. Hat geklappt, würden wir heute sagen.
Es wurde 1865 in Genua uraufgeführt, fiel aber durch. Auch, weil unqualifiziertes Personal ordentlich patzte. Die beiden jungen Wilden mit einem erstaunlich konservativen Nerv für Seele und Pathos, fürs dramatisch Effektvolle und musikalisch Schöne schmissen hin. Wohl auch, weil Altmeister Verdi ätzend die Mundwinkel verzog (aus Neid?). Und so zogen sie mit Wut im Bauch und Garibaldi an der Spitze als Freiwillige in den italienischen Befreiungskrieg.
Später versöhnten sie sich mit Papa Verdi. Faccio wird dessen Lieblingsdirigent. Und Boito Verdis Lieblingslibrettist („Otello“, „Falstaff“); schon sein „Amleto“ ist eine meisterliche Kompaktfassung des Originals, da muss der Prinz aufpassen, dass seine Hauptrolle nicht an Mama Gertrude geht – hier nämlich ist die starke Königin die giftige Spinne des Intrigennetzes, die oberste Bösewichtin.
Übrigens, nach Genua hatte der tönende Shakespeare-Schocker nur noch vier Reprisen: 1871 in Mailand, 2014 in Albuquerque (New Mexico), 2016 in Bregenz und jetzt in Chemnitz, was nicht ganz korrekt ist. Denn die Sachsen hörten „nur“ auf die Musikkritikerin Eleonore Büning und folgten ihrem gellenden Ruf in der FAZ nach einem Kooperationspartner. Freilich nachdem sie sich selbst gleichermaßen begeisterten am Werk der beiden Italiener von damals und ihren Interpreten am Bodensee.
Zuerst die Überraschung von Regisseur Olivier Tambosi und Bühnenbildner Frank Philipp Schlößmann: Eine Glühbirnenkette wie im Zirkus oder Varieté rahmt die schwarz grundierte Bühne – doch das passt. Dem Macht- und Mordspiel lässt zwar die Regie ihre schauerlichen und somnambulen wie auch großen philosophisch-meditativen Momente, stellt aber zugleich das Groteske, das saftig Plebejische, sinnlich Lebensgierige kraftvoll aus. Denn in der Finsternis der Tragödie funkelt nicht nur das vergossene Blut, sondern auch das Komische, ja lustvoll Komödiantische, auch wenn es höchst makaber auf die Bretter knallt. Die beiden Seiten der einen Medaille bringt die Regie im fliegenden Wechsel der prunkvollen Tableaus spannungsgeladen zusammen (Kostüme: Gesine Völlm; Choreographie: Ran Arthur Braun; Licht: Davy Cunningham). Das Grelle, Bunte, massenbewegte Chöre, Tänze, Kämpfe, das „Mausefalle“-Kabarett im dramatischen Wechsel zum schmerzlich Einsamen, traurig Verlorenen, existentialistisch Leeren – gemäß dem Libretto wie der Musik, die Gerrit Prießnitz, Dirigent der Robert-Schumann-Philharmonie, souverän im Taktstock hat.
Eigentlich ist es eine Frechheit, das international besetzte, wunderbare Solisten-Ensemble jetzt erst zu nennen; doch sagen wir so: Das Beste zum Schluss: unter anderem Gustavo Pena (Hamlet), Katerina Hebelkova (Gertrude), Pierre-Yves Pruvot (Claudius), Tatiana Larina (Ophelia), Magnus Piontek (Polonius), Ricardo Llamas Marquez (Horatio) oder Noe Colin als Hamlets Vater in schwerer Rüstung als gruselige Geisterscheinung im gleißenden Licht aus dem Jenseits.
Ein wuchtiger und doch vehement spielerischer Opernabend, der die Anreise aus der Ferne lohnt. Abgesehen von den allerhand anderen Chemnitzer Sehenswürdigkeiten.
Schlagwörter: Arrigo Boito, Chemnitz, Franco Faccio, Hamlet, Industriemuseum, Olivier Tambosi, Reinhard Wengierek