21. Jahrgang | Nummer 25 | 3. Dezember 2018

Ostgeschichte maßgeschneidert

von Erhard Weinholz

Die Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland mit Hauptsitz in Bonn hat drei Ableger, und zwar – das will schon etwas heißen – allesamt im Osten: in Berlin den Tränenpalast am Bahnhof Friedrichstraße und das Museum in der Kulturbrauerei, in Leipzig in zentraler Lage das Zeitgeschichtliche Forum (ZF). Dort nun ist seit einiger Zeit ein neuer Direktor im Amt, der sich, so ist es üblich, mit einer neuen Dauerausstellung vorstellt: „Unsere Geschichte: Diktatur und Demokratie nach 1945“. Gemeint ist die Geschichte dessen, was heute neue Bundesländer heißt.
Ich hatte gehofft, am Eröffnungstag wenigstens einen Teil dieser Ausstellung vorab beschauen zu können, die anders als die bisherige auch die Entwicklung seit 1990 einbezieht. Doch vor den richtungsweisenden vier Festreden – die Sache war also hochwichtig – wurde man nicht eingelassen. Die Stühle reichten bei weitem nicht; längeres Stehen aber war mir schon schwergefallen, als ich einst vom Straßenrand aus Manuel Pinto da Costa oder Leonid Breshnew zuwinken musste. Ich fand dann seitab einen Sitzplatz, hörte in die Reden nur einige Male kurz hinein. Der Osten, so hieß es, sei dem Westen noch immer unverständlich. Vermutlich, weil er ihn nicht interessiert – und warum sollte er auch, wo man doch dort fortlebt wie zuvor? Genauer zu kennen scheint man den Osten aber selbst in Leipzig nicht: Abgeschottet sei er gewesen, war vom Direktor zu hören … na klar, geschneidert wurde zum Beispiel stets nach Vorlagen aus der Sowjetfrau, und als Kohl in die DDR kam, haben wir gedacht: Meine Güte, der Adenauer, der ist aber dick geworden!
In Teil Eins – weiter reichte meine Fassungskraft nachher nicht – wird man nur über die Jahre 1945/46 und 1989/90 ausführlicher informiert. Durchwandert man die Räume dazwischen, kommt man zwar zeitlich voran, doch nicht – wie bisher – von Ereignis zu Ereignis: Der Schwerpunkt liegt nun auf der Charakteristik der einst herrschenden Ordnung. Es fehlen aber regelmäßig Angaben, die für das Verständnis, die Bewertung der Gegebenheiten und Verläufe bedeutsam sind. Ein paar Einzelheiten zunächst: Man wolle, wie es in einer der Reden hieß, an einst begangenes Unrecht erinnern. Dass die Bodenreform in der SBZ ein Unrechtsakt war, wie der zugehörige Text suggeriert, ist jedoch zu bezweifeln, nicht zuletzt, weil ihre Ergebnisse bei der Einigung übernommen wurden und auch vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand hatten. Aber das erwähnt man nicht. Und die alten Nazis in Bonner Regierungsstellen, auf die man im Osten gern verwiesen hat, wie die Ausstellung zeigt, waren die etwa eine Erfindung der SED? Auch dazu kein Wort. Ein Drittes: Die Ausstellung solle zeigen, dass auch hier, in der Diktatur also, gelebt, geliebt, gefeiert und sogar hart gearbeitet wurde. Das ist banal, musste aber vielleicht mal gesagt werden. Doch scheint man dem Osten die Liebe nicht einmal richtig zu gönnen: Klamann-Bilder stuft man als schlüpfrig ein. Nackte Brüste … na pfui! Aber man war ja in Leipzig schon immer so sittenstreng – vor allem zur Messezeit. Gearbeitet wurde in der Wirtschaft der achtziger Jahre auch kaum noch mit solch altertümlicher Ausrüstung, wie sie das ZF zeigt. Und womit wurde gefeiert? Mit Kuko-Reis und Tempo-Linsen? Sieht man die Vitrine mit Proben des regulären Lebensmittelsortiments, muss man sich die DDR als irdisches Jammertal denken. Grund zum Ärger bot die Versorgung tatsächlich: Manches kam selten oder nie in die Läden, es mangelte an Vielfalt, es fehlten mitunter sogar plötzlich Dinge, die es sonst immer gegeben hatte. Mangelwirtschaft heißt es heute fast schon reflexartig, sobald die Rede darauf kommt. Doch sind auf dem unvermeidlichen Kundenschlangenfoto alle, die anstehen, wohlgenährt und gut gekleidet. Auch sahen die Wohnzimmer, in denen man lebte – man hat sie ja mehr als einmal fotografisch dokumentiert – selten nur so abstoßend aus wie jene plüschige Koje, die man in dieser Ausstellung eingerichtet hat. Und bei wem lag eigentlich „Vom Sinn des Soldatseins“ auf dem Bücherbord? Schließlich und von allen Einzeleinwänden abgesehen: Man sollte nicht meinen, mit der Formel Diktatur plus Konsum die Eigenarten der DDR merklich besser zu verstehen. Eine Diktatur war dieser Staat von Anfang an bis zum Herbst 1989, doch welcher Art eine Herrschaft ist, sagt selbst in politischer Hinsicht bei weitem nicht alles über die Lebenswirklichkeit in einem Lande.
Einer der grundlegenden Mängel dieser Ausstellung wurde mir so recht bewusst, als ich mir die wenigen Bilder besah, die die Malerei im Osten repräsentieren sollen und, obwohl zumeist später entstanden, allesamt dem Formenkanon der 1950er Jahre verhaftet bleiben: Dass die DDR eine sich entwickelnde Gesellschaft war, ist hier wie anderswo in diesen Räumen kaum zu erkennen und wird nur an einer Stelle angesprochen, mit Blick auf die achtziger Jahre und das damals einsetzende staatskritische Engagement einer sehr kleinen Minderheit. Entwickelt hat sich hierzulande aber erheblich mehr, zum Beispiel, ebenso wie in anderen Industriestaaten, die Mentalität der breiten Masse. Die Grundzüge dieser Entwicklung werden jedoch an keiner Stelle ausdrücklich benannt. Einer davon sei hier erwähnt: die Ausweitung zumindest des individuellen Handlungsspielraums, die beileibe nicht erst in den Achtzigern begann – der alte Homosexualitätsparagraf wurde gestrichen, der Schwangerschaftsabbruch legalisiert, es war eines Tages – wann war das eigentlich? – nicht mehr verpönt, Westsender zu hören und zu sehen, Tabus wurden ungültig usw. usf. Als der Slawist Fritz Mierau Ende der Siebziger erstmals Trotzki zitierte, der im Osten bis dahin völlig verfemt gewesen war, dachten manche noch, es würde ihn ein Blitz aus Moskau dafür strafen. Doch Moskau hatte inzwischen andere Sorgen.
Der Freiheitszuwachs hierzulande war kein Geschenk von oben, er vollzog sich auch nicht kontinuierlich. Wie er erreicht wurde und von wem, war von Fall zu Fall verschieden; zwischen SED-Mitgliedern und Parteilosen verlief die Frontlinie dabei nur selten. Seine Wirkungen einzuschätzen, soweit er Politisches betraf, ist schwierig; ich vermute, dass er, grob gesagt, dazu beitrug, das herrschende System funktionsfähig zu halten, es zugleich aber untergrub. Von alledem lässt sich in einer Ausstellung wie dieser sicherlich nur weniges sichtbar machen, doch hier erfährt man davon so gut wie nichts. Im Vordergrund steht vielmehr der SED-Staat: Er hat dies versprochen, das befohlen, jenes verboten und so weiter. Wie das Volk damit umging, und zwar das Volk in seiner realen Differenziertheit, bleibt unklar. Die Zeitzeugen auf den Videos können, was den Texten fehlt, mit ihren Äußerungen nicht ersetzen. Denn wenn zum Beispiel ein VEB-Direktor auf die da oben schimpft, weil sie angeblich nichts vom Wirtschaften verstanden haben, kann doch von den Besuchern so gut wie niemand einschätzen, was daran stimmt.
Zuletzt haben all jene Konflikte und Fortschritte, die auf die eine oder andere Weise Politisches betrafen, hingeführt zum wichtigsten Ereignis deutscher Geschichte seit 1945, der Revolution vom Herbst 1989. Ich habe so manches Mal das Volk der DDR als angepasste Trabi-Bastler und Schrankwandbesitzer verflucht, doch als die Stunde kam, waren viele von ihnen zur Stelle. Was hat sie dazu gebracht, was befähigt? Welche Ziele, Werte und Normen waren dabei am Werk? Auch hier wieder Fehlanzeige. Das Funktionieren der alten DDR wird in dieser Ausstellung ebenso wenig verständlich wie ihr Ende. Oder soll sie ein solches Verständnis gar nicht vermitteln? Zielt sie vielleicht eher darauf ab, diese DDR als etwas hinzustellen, von dem man sich mit den Worten Wie hat denn das passieren können? schaudernd abzuwenden hat? Eben dazu passt sowohl die Behauptung, sie sei abgeschottet gewesen, wie auch die Entscheidung, das Konzept ausgehend von den Begriffen Diktatur und Demokratie zu gestalten. Viele Westler werden hier ihre Vorurteile bestätigt finden, viele Ostler hingegen, viele Leipziger sogar antworten auf Darstellungen dieser Art seit langem schon mit Vergangenheitsverklärung.