21. Jahrgang | Nummer 23 | 5. November 2018

Nachlese zum Tag der Deutschen Einheit

von Stephan Wohanka

Gut, am Tag der Deutschen Einheit war das Wetter mies. Die Stimmung desgleichen. Woran lags (auch)?
Seit geraumer Zeit macht Deutschland eine krisenhafte ideelle und moralische Erschöpfung durch, geriet in eine kulturelle Erosion. Es kam zu einem eigentümlichen Bündnis zwischen einer sich modernisierenden Rechten und einer mit dem Topos des Endes, des Untergangs kokettierenden Intelligenzija; prototypisch Botho Strauß – man kann ihn nicht oft genug zitieren: „Ich möchte lieber in einem aussterbenden Volk leben als in einem, das aus vorwiegend ökonomisch-demografischen Spekulationen mit fremden Völkern aufgemischt, verjüngt wird, einem vitalen.“ Man weiß auch nicht, was schwerer wiegt, die Überforderung der etablierten Politik oder die Selbstaufgabe ihres Gestaltungsanspruches; teilweise wurde dem auch noch das Etikett „alternativlos“ aufgepappt. Politische Verantwortung für das Ganze wird von ebendieser Politik mehr schlecht als recht wahrgenommen; parteigebundener Partikularismus dominiert. (Kritische) Intellektuelle heben ab und an ihre dünnen Stimmen. Die Indolenz fand einen Höhepunkt in der Auseinandersetzung um Horst Seehofers – er wirke „mittlerweile unzurechnungsfähig“ (Bartholomäus Grill) – wirren „Masterplan“. Eine veritable, die Regierung fast in den politischen Selbstmord treibende Krise war das Resultat. Waren warnende Stimmen politischer Vernunft innerhalb und außerhalb der Politik zu hören? Kaum; dabei war das Ganze nicht nur wirr, sondern völlig sinnfrei – nur Wochen später hatte sich der Gegenstand quasi in Luft aufgelöst. Als Folge all dessen und zugleich diese Entwicklung befeuernd geriet das Land in ein „Zeitalter des Ressentiments“ mit vagabundierenden Orientierungspotentialen, mit Echoräumen, in denen nur noch die eigene, verstärkte Stimme widerhallt. Die Grenzen des Wähl-, Sag- und Machbaren haben sich verschoben. Eine Mischung aus neu-rechten, sich als Elite verstehenden Zirkeln und einem zum Mob tendierenden gesellschaftlichen Umfeld aus „Systemverächtern“ unterschiedlicher Couleur machte sich breit. Andersdenkende halten mit eindrucksvollen Demonstrationen dagegen und demonstrieren für Offenheit und Demokratie …
Der landauf landab vorgetragene Missmut, ja Zorn auf die Regierung ist also bestens begründet. Unterschiede in der Artikulation des Missbehagens sind jedoch zwischen Ost und West auszumachen. Das kommt – denke ich – daher, dass die Menschen im Osten anfälliger sind für eine derartige Entwertung politischer Ziele und Haltungen, von (moralischen) Werten, denn es ist das zweite Mal, dass ihnen das passiert; die Folge: „Wir trauen niemandem mehr, schon gar nicht der Regierung, dem System.“ Stärker als in den alten Bundesländern werden daher Affekte mobilisiert, die sich ausdrücklich gegen gesicherte Erkenntnisse, gegen bewährte Umgangsformen und Rechtsnormen, bah – gegen die Vernunft selbst richten, jedem noch so abstrusen Gerücht wird vielfach Glauben geschenkt.
Das Selbstverständnis ihrer Bürger war in der DDR durch die Teilnahme am Arbeitsprozess geprägt. Vielen war – durchaus im Einklang mit der Propaganda – Beruf mehr als nur die Möglichkeit, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Gegen Ende der DDR machte dieses Arbeitsethos aufgrund des wirtschaftlichen Abschwungs einer diffusen Mischung aus weiterhin idealistischen und zunehmend pragmatisch-opportunistischen Motiven und Handlungsmaximen Platz. Dann kam der Herbst 1989. Dessen Ereignisse waren nicht nur einer situativen Dynamik geschuldet, sondern Resultat längerfristiger Prozesse gesellschaftlicher Delegitimierung und Desintegration, die den schlagartigen Zerfall unterschwellig vorbereiteten. Die wichtigste Institution des politischen Systems der DDR, die SED, fügte sich entgegen aller zuvor gepflegten Selbstdarstellungen ohne Gegenwehr dem Aufbegehren der Menschen, ließ sich vom Ruf „Wir sind das Volk“ in die Defensive treiben. Viel Kraft und Erfindungsgeist steckte die Partei dagegen in die teils offene, teils konspirative Verteidigung ihres Apparates und seiner materiell-finanziellen Ressourcen.
Was lehrte das nicht wenige Menschen in den nun Neuen Ländern? Einer äußerlich sich stark und geschlossen gebenden Gesellschaft, die sich „aus Gewinnern der Geschichte“ rekrutierte, verkamen in historisch kurzer Zeit ihre Werte und Überzeugungen zu hohlen Phrasen. Eine sich spontan bildende, aber entschlossen auftretende Bürgerbewegung vermochte sich dieser Hülle über Nacht zu entledigen. Kurz gefasst: Politische Ordnungen sind nicht so stabil wie sie scheinen. Sie erodieren von innen. Die Eliten retten sowieso ihre Haut. Man kann sie aber stürzen. Wiederholung möglich! Ein politisches „memento mori“.
Mit der Einführung der DM, mit dem Mauerfall vom 9. November 1989 und dem nun ungehinderten Reisen blieb es den Menschen verwehrt, einen eigenständigen Weg aus der ideologischen Fremdbestimmtheit zu suchen und – vielleicht – zu finden. Damit standen nicht nur DDR-Bürgerrechtler „vor dem Scherbenhaufen ihres Versuchs der sozialistischen Erneuerung“ (Stefan Bollinger), sondern jedwedes Experiment selbstbestimmten Wachsens einer alternativen Gesellschaft kam zum Erliegen. Anders gesagt – die „alte“ Fremdbestimmung wurde (zu) schnell durch eine „neue“, nun westdeutsche, „treuhänderische“, abgelöst; mit allen ihren negativen Begleiterscheinungen. Vom Regen in die Traufe; das-Sich-Fremd-Fühlen im eigenen Land hat darin eine Ursache.
Seitdem oszilliert die Befindlichkeit vieler Ostdeutscher um (ökonomische) Ungleichheit und Identität, wobei beides in eins fällt: Die wirtschaftliche Zurücksetzung in Gestalt geringerer Löhne, des noch unterschiedlichen Rentenniveaus, empfinden diese Menschen als Identitätsverlust, was auf dem oben erwähnten Hintergrund vom Wert der (Arbeits-) Biographie nicht verwundert. Die Wut, das Ressentiment sind so grundsätzlich ökonomisch fundiert, finden aber ihren Ausdruck in einem kulturpsychologischen Begriff. Jedoch spielt die Frage nach einer ostdeutschen Identität öffentlich kaum (mehr) eine Rolle; und wenn – so ist sie negativ besetzt. Und Menschen ohne Identität haben auch keine Sprache für das, was sie eigentlich sagen wollen. Stattdessen schreien sie. In diese Schreie mischt sich nicht selten xenophobes, rechts-nationalistisches und faschistoides Gebrüll.
Im Osten ist auch die Angst vor Flüchtlingen, die Angst vor dem Fremden wahrnehmbarer als im Westen. Ich glaube dennoch, dass es nicht so entscheidend ist, wer bisher gekommen ist oder noch kommt, weil es bislang nicht so viele waren. Entscheidender ist, wer gegangen ist oder geht – desgleichen ein Phänomen, das die Psyche der (früheren) DDR-Bürger prägt: Als Zigtausende von ihnen 1989 aus dem Lande flüchteten, meinte Honecker denen nachrufen zu müssen: „Man sollte ihnen […] keine Träne nachweinen“. Dieser Exodus und namentlich die Landflucht setzten sich mit Mauerfall und Wiedervereinigung umso stärker fort und beraubten viele östliche Landstriche ihrer jungen Menschen. Das hat für eine schnell alternde Gesellschaft harsche Folgen und schürt berechtigte Ängste.
Dresden 2016, am 3. Oktober. Oben erwähnte mobile vulgus – „reizbare Volksmenge“; daher nimmt sich der Begriff „Mob“ – brüllte denn auch als eine der gelinderen Forderungen „Merkel muss weg“. Ganz anders das Bild zum gleichen Datum 2018 in Berlin. Das Kanzleramt hatte sich für die Kanzlerin einen „bürgernahen Termin“ vorgestellt – Merkel defilierte danach händeschüttelnd an geneigten Bürgern vorbei. Die Presse („aber bitte keine Fragen“) sollte sie „volksnah“ aussehen lassen. Es kam anders; auffällig wenige Menschen ließen sich sehen. Lediglich weiter weg in der Berliner Innenstadt kam es zur „Merkel-muss-weg“-Demonstration einschließlich der obligaten Gegendemonstration.
Das Land ist am 3. Oktober 2018 tief gespalten und ringt um sein Selbst, seine innere Einheit. Es ist damit ein Spiegelbild der Befindlichkeit seiner Bürger.