von Alfons Markuske
Amsterdam verfügt über etwa 50 Museen, darunter natürlich auch eines für Sex, aber auch eines für Pianolas. Wer trotz Kurzvisite wenigstens die Must-haves wie Reichsmuseum, Van-Gogh-Museum und Anne-Frank-Haus gesehen haben will, der bekommt das hin, sollte aber einiges beachten. Denn schon an einem normalen Wochentag morgens um 11:00 Uhr erfordert der Versuch, im Reichsmuseum zum Nullmeridian niederländischer nationaler Selbstvergewisserung und rein physisch bis zu einem Punkt vorzudringen, an dem Rembrandts „Nachtwache“ dann tatsächlich in Gänze, von in Ruhe gar nicht zu reden, zu betrachten ist, nämlich einiges an Ausdauer und Durchsetzungsvermögen. Dieses Geschoss des Hauses ist dann schon rappelvoll.
Der Anblick entschädigt für die Unbill allemal, ist jedoch zugleich nur ein milder Vorgeschmack auf das, was dem Betrachtungspuristen an smartphonebewaffneten, schnapp- und selfieschießenden Menschenmassen vor nahezu jedem Gemälde im Van-Gogh-Museum – Fotografieren verboten! – bevorsteht. An diesem Orte Kunstgenuss zu erwarten, kommt einer Forderung nach Quadratur des Kreises gleich. Und wem diese Beschreibung den Tatbestand des elitären Kulturchauvinismus zu erfüllen scheint, der war einfach noch nicht dort.
Bleibt das Anne-Frank-Haus, vor dessen Zugang sich immer lange Schlangen bilden, obwohl der unbedarfte Amsterdambesucher sowieso keine Chance auf Eintritt hat. Auf Infotafeln wird ihm lapidar mitgeteilt: „Tickets online only“. Da wir an dieser Stelle analog unterwegs waren, blieb uns zumindest die Warteschlange erspart.
Gut zu besuchen hingegen, weil weit geringer frequentiert, ist das Schifffahrtsmuseum der Stadt – passenderweise untergebracht in einem ehemaligen Arsenal der Kriegsmarine. Es kann seinen Pendants in Portsmouth und Barcelona durchaus das Wasser reichen.
Vor allem dank ihrer Kriegsmarine stiegen die Niederlande im 17. Jahrhundert, was dem Besucher auch expressis verbis so mitgeteilt wird, zur „Supermacht wie heute die USA oder China“ auf, und zwar bereits in jenen Jahrzehnten, als sich die meisten anderen europäischen Großmächte in Mitteleuropa noch im Dreißigjährigen Krieg austobten. Der hinderte nicht zuletzt die Spanier daran, die abtrünnigen niederländischen Provinzen trotz 80 Jahre währender militärischer Versuche wieder unter ihre Fuchtel zu bringen. Diese Periode endete mit dem Westfälischen Frieden von 1648, der den nördlichen Provinzen der Niederlande die Unabhängigkeit verbriefte.
Schon zu dieser Zeit beherrschten die Holländer die Weltmeere, eroberten ferne Länder oder kamen auch mal relativ friedlich zum Ziel, etwa in Japan, wo sie 200 Jahre lang den einzigen Handelsvorposten der westlichen Hemisphäre unterhalten konnten. Sie verdienten sich am Überseehandel mit Gewürzen und Luxusgütern dumm und dämlich und stiegen zur damals wahrscheinlich reichsten Nation der Erde auf. Das niederländische Nationalnarrativ spricht von dieser Periode denn auch nur als vom „Goldenen Zeitalter“.
Eine konstituierende Voraussetzung für diesen Aufschwung war das vergleichsweise freiheitliche Regime im Lande. Es herrschte Religionsfreiheit, was Menschen unterschiedlichster Provenienz, darunter nicht wenige Gelehrte und Schriftsteller, anzog, die ihres Glaubens wegen anderswo verfolgt wurden. Schon die um ihre Unabhängigkeit ringenden Provinzen boten ihnen nicht zuletzt geistige Bewegungsfreiheit und Arbeit im Überfluss. Mit der 1575 gegründeten Universität Leiden und der Entfaltung der Geistes- und Naturwissenschaften stieg das Land auch zu einem bedeutenden Wissenszentrum auf.
Die Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC), 1602 zur Abwicklung des Asienhandels von Amsterdam und Middelburg gegründet, mit Hauptquartier in Batavia, der heutigen indonesischen Hauptstadt Jakarta, wurde zum wahrscheinlich größten Wirtschaftsunternehmen des 17. Jahrhunderts, hatte in den knapp 200 Jahren ihrer Existenz etwa 4700 Schiffe unter Segeln und transportierte, nach heutigen Werten, Waren im Umfang von zwischen 200 und 300 Milliarden Euro.
Ein Ergebnis des darauf gegründeten Wohlstandes bestand in einem so in der Kunstgeschichte weder zuvor in der italienischen Renaissance noch später während des französischen Impressionismus je wieder erreichten Boom der Malerei. Um 1650, auf dem Höhepunkt des Goldenen Zeitalters, arbeiteten rund 700 Maler in den Niederlanden, die bis zu 70.000 Werke pro Jahr ablieferten. Die Kunstmuseen der Welt legen noch heute beredt Zeugnis davon ab.
Vom Goldenen Zeitalter zehrt denn zu erheblichen Teilen auch das Schifffahrtsmuseum, das naturgemäß ein Hauptaugenmerk auf die glorreiche Kriegsmarinegeschichte und den Nationalhelden jener Periode legt, Admiral Michiel Adrianszoon de Ruyter.
Dieser, 1607 als viertes von 13 Kindern eines armen Brauknechts geboren, genoss zwar kaum Schulbildung, fuhr aber bereits ab 1617 zur See und erlernte dieses Handwerk von der Pike auf. Nach Abschluss eines Steuermannsstudiums 1833 fuhr er einige Jahre lang auf einem Walfänger im Nordatlantik und bekämpfte ab 1637 als Kommandant eines kleinen Kriegsschiffes mit zehn Kanonen mit großem Erfolg Piraten aus Dünkirchen, die die Handelsschifffahrt bedrohten. Am 1641 ausbrechenden Krieg der Niederlande und Portugals nahm er bereits im Range eines Konteradmirals teil und verhinderte in der Seeschlacht von Saint Vincent in der Karibik durch beherzten Einsatz der von ihm kommandierten Nachhut die Vernichtung der niederländischen Flotte. Danach war er noch zehn Jahre als Handelskapitän und Kaufmann vor allem im Mittelmeer und in der Karibik tätig, wobei er erklecklichen Reichtum erwarb, bevor er in den 1652 beginnenden insgesamt vier Englisch-Niederländischen Seekriegen endgültig zum Seehelden aufstieg: Im ersten (1652–54) bestritt er Gefechte unter anderem vor Plymouth, bei Kentish Knock und bei Dungeness. Im zweiten (1665–67), als „Admiralleutnant“ und „Befehlshaber der Flotte der Generalstaaten“ verbuchte er in der Viertageschlacht vom 11. Juni bis 14. Juni 1666 zwischen der Küste von Flandern und der Mündung der Themse einen seiner größten Siege; de Ruyters führte die Schlacht von seinem berühmten Flaggschiff „De Zeven Provinciën“. Die Niederländer verloren vier Schiffe, die Engländer 23. Im dritten (1672–74) siegte er in den Schlachten in der Solebay und vor Texel.
Nach dem Ende dieses Krieges ergriff Frankreich für England Partei. Am 22. April 1676 sah sich de Ruyter vor der Küste Siziliens in der Seeschlacht bei Augusta – seiner 39. – einer überlegenen französischen Flotte gegenüber. Im Gefecht zerschmetterte ihm, der nie zuvor auf See verwundet worden war, eine Kanonenkugel den rechten Fuß. An den Folgen dieser Verwundung starb er drei Tage später an Bord seines Flaggschiffs Eendracht.
In der spätgotischen Nieuwe Kerk (Neuen Kirche) auf dem Dam, Amsterdams zentralem Platz, wurde Michiel de Ruyter ein Prunkgrab errichtet – anstelle und in der Größe eines Hochaltars.
Zurück ins Schifffahrtsmuseum: In dem ganzen großen Haus informiert im Übrigen nur eine unauffällige kleine Tafel eher beiläufig darüber, dass die VOC neben Gewürzen und Luxusgütern noch eine dritte Haupteinnahmequelle hatte: Sklavenhandel. Immerhin wird die unglaubliche Zahl von 500.000 Betroffenen genannt. Unter den hunderten gemalten Schiffen und einer sicher auch dreistelligen Anzahl von Schiffsmodellen im Museum sucht man allerdings die Darstellung eines Sklaventransporters vergeblich, die verdeutlichte, wie Menschen dort unter Deck wie beliebige Waren gestaut wurden, um möglichst viele von ihnen unterzubringen. Unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Inhumanität als höchst profitables Geschäftsmodell. Auch der beeindruckende naturgetreue Nachbau eines Kauffahrers, der an der Pier hinter dem Museum zu besichtigen ist, lässt davon nichts erahnen.
Schlagwörter: Alfons Markuske, Amsterdam, Museum, Schifffahrt, Schlacht, Seekrieg