von Edgar Benkwitz
„Der widersprüchliche Premierminister – Narendra Modi und sein Indien“ heißt ein neues Buch, das Ende Oktober unter großem Pomp in Neu Delhi der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Autor ist ein hochrangiger Funktionär der oppositionellen Kongresspartei, Shashi Tharoor, die Zeremonie wurde durch den Amtsvorgänger Modis, Manmohan Singh, ebenfalls Kongresspartei, mit einer Rede eröffnet.
In Indien wird in wenigen Monaten ein neues Parlament gewählt, bis zum Jahresende gibt es noch Landtagswahlen in fünf Bundesstaaten. Somit reiht sich die Veranstaltung, die eine Abrechnung mit der Politik der seit 2014 regierenden hindunationalistischen Indischen Volkspartei(BJP) darstellt, in den anlaufenden Wahlkampf ein. Dass dabei der einst hoch gehandelte Politstar Shashi Tharoor (62 Jahre) mit seinem 400 Seiten umfassenden Buch kräftig mitwirkte, ist nicht verwunderlich. Er gehört seit kurzem wieder der Führung der Kongresspartei an. Doch Shashi Tharoor ist mehr als nur Funktionsträger einer Partei. Er ist Verfasser einer Reihe von Büchern, die Toleranz und Weltoffenheit verkünden und Stellung gegen engen Nationalismus und Chauvinismus beziehen. Einige von ihnen, wie die brilliant geschriebene „Eine kleine Geschichte Indiens“ liegen auch auf Deutsch vor. Tharoor bekleidete bei den Vereinten Nationen hohe Ämter, unter anderem war er einer der Stellvertreter von Generalsekretär Kofi Annan. 2006 als dessen möglicher Nachfolger nominiert, scheiterte er bei einer Probeabstimmung im Sicherheitsrat am Veto der USA. Spektakulär gestaltete sich 2015 sein Auftreten an der Universität Oxford, wo er – absolut ungewöhnlich für einen indischen Politiker – die ehemalige Kolonialmacht der Ausplünderung seines Landes bezichtigte und Reparationen für 200 Jahre Kolonialherrschaft forderte.
Sein neues Buch ist noch nicht im Handel, nur Bestellungen werden entgegengenommen. Der Autor und seine Parteifreunde nehmen jedoch schon jetzt die Zielperson der Aktion ins Visier. Es ist Premierminister Narendra Modi, der bisher in jeder Wahlkampagne das Zugpferd seiner Partei war und deren Erfolg garantierte. Sicher ist zu erwarten, dass der Autor äußerst kritisch mit der hindunationalistischen Politik und deren Gestaltern umgehen wird.
Doch nicht nur die Kongresspartei fuhr schweres Geschütz für den beginnenden Wahlkampf auf. Ihr zuvor kam der gehasste politische Gegner, allerdings nicht in Gestalt von Premierminister Modi oder Parteipräsident Amit Shah, sondern in der eines Mannes namens Mohan Bhagwat. Im Ausland weitgehend unbekannt, ist er der einflussreichste Mann im Hintergrund der hindunationalistischen Bewegung, gewissermaßen deren graue Eminenz. Als Chef der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) – Nationale Freiwilligenunion – die das organisatorische und ideologische Rückgrat und zugleich Kaderschmiede des Hindunationalismus mit seinen vielen Organisationen ist, bestimmt er maßgeblich deren Auftreten sowie ihre personelle Führung. Fotos zeigen einen wohlgenährten, zufriedenen und gemütlichen Herrn von 68 Jahren, mit einem imposanten weißen Schnurrbart im Gesicht und einen farbigen Turban auf dem Kopf. Dieser sympathische Eindruck täuscht aber gewaltig, denn Bhagwat muss auf Grund seiner politisch-ideologischen Einstellung zu den gefährlichsten Männern Indiens gezählt werden. Nicht ohne Grund wird er durch die Staatsgewalt rund um die Uhr beschützt.
Dieser Mohan Bhagwat hat keine politischen Funktionen, er scheute bisher weitgehend das Licht der Öffentlichkeit. Seine Zentrale befindet sich im zentralindischen Nagpur, weitab vom politischen Geschehen des Landes. Nur hin und wieder meldete er sich mit Reden vor hindunationalistischen Kadern.
Doch nun versetzte er ganz Indien in Staunen, indem er vor Mikrofonen und Fernsehkameras sowie einem großen Publikum in Neu Delhi eine dreitägige Lektion über seine Organisation und deren Haltung zu aktuellen Fragen des Landes hielt. War von ihm bisher nur ein prinzipieller, oft aggressiver Hindunationalismus zu hören, so änderte sich jetzt das Bild nahezu vollkommen. In einer beinahe herzlichen Art, wie die Presse schreibt, plauderte er von einer „globalen Brüderschaft, die sich trotz Nationalstaaten ausbreitet“, von der „Welt als einer Familie“. Vergessen war offensichtlich der Hass auf Pakistan sowie die Muslime, Andersgläubige und -denkende in Indien. „Hindutva (das Hindutum– E.B.) würde aufhören zu existieren, wenn Muslime hier unerwünscht seien“ – so eine seiner erstaunlichen Feststellungen, die ganz im Gegensatz zu den Kampagnen gegen die Muslimbevölkerung Indiens stehen. Gleichzeitig versuchte er, Brücken zur bisher verfemten politischen Opposition zu schlagen, sie in die Lösung der Probleme des Landes einzubinden. Das klang vor kurzer Zeit noch ganz anders, als die politische Agitation beispielsweise forderte, ein „Indien ohne Kongresspartei“ zu schaffen.
Wie nicht anders zu erwarten, wurde Mohan Bhagwat nach seinen Ausführungen von seinen Anhängern und Teilen der Presse gefeiert. „Nach Jahrzehnten hat Indien einen neuen sozialen Führer“, schrieb überschwänglich Tarun Vijay in der Times of India. Doch in den Kommentaren überwogen bei weitem die kritischen Stimmen. Es wird an die Gräueltaten von Hinduchauvinisten im ganzen Land seit 2014 erinnert, die im Glauben an die Botschaften von Mohan Bhagwat und dessen Vorgängern handelten. Ein Umdenken von heute auf morgen wird deshalb nicht erwartet, vor allem wird Zweifel an der Wirksamkeit der neuen Losungen an der Basis geäußert.
Nachdenkliche Stimmen versuchen, Gründe für den Meinungsumschwung des RSS-Bosses zu finden. Eine große Rolle dürften dabei die bevorstehenden Wahlen spielen. Denn der Hindunationalismus der letzten fünf Jahre, vor allem das intolerante und aggressive Vorgehen seiner extremen Vertreter, hat in Indien Spuren hinterlassen, die sich auch politisch auszuwirken beginnen. Wie jüngste Wahlergebnisse in einigen Unionsstaaten zeigen, verliert die Regierungspartei an Ansehen und Zuspruch. Dem entgegenzutreten diente zweifellos das Auftreten des RSS-Chefs. Tiefer gehende Betrachtungen gehen noch einen Schritt weiter. Ihnen zufolge ist die ideologische Vorhut des Hindunationalismus gezwungen, alte Dogmen aufzugeben und sich der neuen Zeit anzupassen. Dieser Meinung kann man einiges abgewinnen. Denn in der Tat steht diese rückwärtsgewandte Ideologie im schreienden Gegensatz zu den Anforderungen, aus Indien einen modernen Staat zu machen. Deshalb kann es in der Führung der Kaderorganisation RSS durchaus eine strategische Entscheidung gegeben haben, sich endlich den Bedingungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Offenbar gibt es dazu auch Anstöße von ihrem politisch-parlamentarischem Flügel, der Regierungspartei BJP. Zwischen Premierminister Narendra Modi und dem RSS-Chef Mohan Bhagwat hat es in der Vergangenheit des Öfteren Meinungsunterschiede über die politische Ausrichtung der hindunationalistischen Bewegung gegeben. Modi tritt – wenn auch vorsichtig – für einen breiteren, nicht eingeengten Nationalismus ein, der als wichtige Komponente zu seinen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Vorstellungen die ganze Bevölkerung des Landes erreichen und niemanden ausgrenzen soll.
Shashi Tharoor und Mohan Bhagwat – gegensätzlicher könnten diese Persönlichkeiten mit ihren politisch-ideologischen Anschauungen nicht sein. Hier der tolerante, weltgewandte und scharfzüngige Kongresspolitiker, der in seiner verkrusteten Partei allerdings wenig bewegt und dessen Ansichten oft nur die Elite des Landes erreichen. Und dort die graue Eminenz, die im Hintergrund in eng nationalistischer Manier die Fäden zieht und einen enormen Einfluss auf breite Schichten der Bevölkerung ausübt, jetzt aber gezwungen ist, sein Vorgehen zu überdenken. Indien steht vor einem interessanten Abschnitt seiner Entwicklung.
Schlagwörter: Edgar Benkwitz, Hindunationalismus, Indien, Kongresspartei, Mohan Bhagwat, Shashi Tharoor