von Stephan Giering
Europa ist an literarischer Vielfalt reich. Man denke beispielsweise in der deutschsprachigen Epik an die Kriminalromane von Friedrich Dürrenmatt oder an das griechische Ödipus-Drama von Sophokles. In allen diesen literarischen Gattungen werden rhetorische Stilmittel verwendet. Auch wenn es um das Thema Geld, mithin Finanzen, geht, werden Geschichten geschrieben. Und beim Thema Geld will der Mensch – wie in der Liebe auch – schließlich wissen, woran er ist. Oder?
Als Beispiel sei das im Münchner Antje Kunstmann Verlag erschienene Buch des charismatischen Wirtschaftswissenschaftlers Yanis Varoufakis „Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment“ genannt. Varoufakis war unter der sozialistischen SYRIZA-Regierung griechischer Finanzminister und hatte sich geweigert, für das bankrotte Griechenland neue Schulden bei der EZB und dem IWF aufzunehmen. Deshalb musste er als Minister zurücktreten. Schon der Titel des Buchs deutet an, es handele sich um eine vollständige, mithin alle sachlichen Fakten benennende Erzählung. Gleichzeitig wird ein im politischen Meinungsspektrum oft negativ konnotierter Begriff für die Funktionäre der EU-Administration verwendet: „Europas Establishment“. Doch als einen „Kampf gegen die Bösen“ möchte Varoufakis sein Buch nicht verstanden wissen.
Schon im Vorwort stellt er klar, dass es bei ihm nicht „die Guten“ und „die Bösen“ gibt. Vielmehr zieht er Parallelen zur griechischen Tragödie, in der der Protagonist von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Als tragische Protagonisten will er in seinem Buch nicht sich selbst oder das griechische Volk verstanden wissen, sondern die Gläubiger Griechenlands (sic!) selbst. Tragisch erscheinen also die politischen Eliten und Banken im EURO-Raum, „ […] weil sie fürchteten, Griechenlands unausgesprochener Bankrott könnte zur Folge haben, dass sie die politische Kontrolle über Europa verlieren“, weshalb „sie dem Land Maßnahmen [aufzwangen], die nach und nach ihre politische Kontrolle […] über Europa aushöhlten.“ Ja, Varoufakis setzt ganz offen auf die emotionale Wirkung, die sein Text bei den Lesenden hervorrufen soll und baut den Inhalt seines Buchs gleichsam dem eines Dramas auf. Doch – und das ist das Entscheidende hierbei – möchte er bei seiner Leserschaft kein Gefühl von Hass oder Ablehnung gegen „die da in Brüssel“ erzeugen. Es geht ihm vielmehr darum, am Beispiel der griechischen Finanzkrise seit 2010 aufzuzeigen, wie ansonsten vielleicht völlig vernünftig handelnde politische Akteure, bedingt durch ihre jeweilige Rolle im Machtgefüge der EU-Institutionen, plötzlich einem Realitätsverlust und somit einer Hybris wie in einer echten griechischen Tragödie verfallen. Dabei würden sie von einer Angst vor dem Scheitern ihrer eigenen Politik angetrieben.
Dieses Scheitern lasse sich nach Varoufakis’ Beschreibung durch die sogenannten „Griechenland-Rettungspakete“ zwar nicht aufhalten, doch auf Kosten des griechischen Volkes zumindest hinauszögern. Schonungslos zeigt er auf, wie sich die Situation der „ganz normalen Griechen“ seit den sogenannten „Finanzhilfen“ immer weiter verschlechtert hat. Nicht die Griechen, sondern französische und deutsche Banken seien mit diesen „Hilfen“ durch EU und IWF gerettet worden! Denn die an Griechenland ausgezahlten Kredite mussten postwendend dazu genutzt werden, fällige Kredite bei Großbanken in Deutschland und Frankreich zu bedienen. Dazu liefert Varoufakis Fakten und Zahlen. Er kritisiert, dass die Gralshüter des freien Marktes in der EU, die auch ihren eigenen Völkern immer wieder die Bedeutung der Selbstverantwortung und „Selbstregulierung der Finanzmärkte“ predigten, ebenjene hochgelobten „Marktregeln“ selber außer Kraft setzten, als sie ultraspekulative Banken plötzlich als „systemimmanent“ bezeichneten und sie durch eine noch nie dagewesene staatlich-finanzielle Hilfe vor den Konsequenzen ihres eigene „Markthandelns“ schützten. Die Völker der EURO-Zone stehen seitdem dafür in der finanziellen Haftung. Heute, acht Jahre nach Beginn der griechischen Finanzkrise in 2010, sind die politisch verantwortlichen Akteure in der EU oft noch in Amt und Würden, wenngleich die finanzpolitische Lage im EURO-Raum nicht wirklich besser geworden ist, wie die aktuelle Situation in Italien offenbart.
Doch wer trägt – sollte es so kommen – die „Schuld“ an einem Scheitern des EURO? Stimmt es, dass „Europa“ scheitern würde, sollte es den EURO einmal nicht mehr geben, wie es Angela Merkel einmal gegenüber dem deutschen Volk behauptet hat? Wer das spannend geschriebene und mit persönlichen Anekdoten angereicherte Buch von Yanis Varoufakis zur griechischen Finanzkrise ab 2010 bis zu den Ereignissen seines Rücktritts als Minister im Sommer 2015 gelesen hat, wird ihm am Ende vielleicht darin zustimmen können, dass „in diesem und gegen dieses illiberale und antidemokratische Europa zu sein“, [die einzige] praktische Möglichkeit ist, das Auseinanderfallen der Europäischen Union und seiner Völker zu verhindern.
Yanis Varoufakis: Die ganze Geschichte. Meine Auseinandersetzung mit Europas Establishment, Verlag Antje Kunstmann, München 2017, 656 Seiten, 30,00 Euro.
Schlagwörter: EU, Euro, Finanzkrise, Griechenland, IWF, Stephan Giering, Yanis Varoufakis