21. Jahrgang | Nummer 24 | 19. November 2018

Das sowjetische Jahrhundert

von Stephan Giering

Eins vorweg: das Buch von Karl Schlögel ist kein politisches Statement. Es rechtfertigt oder beschönigt nichts, was in der Sowjetunion an Unrecht geschah, es stimmt aber auch keine Schwarz-Weiß-Töne an. Vielmehr liefert es einen sachlichen Beitrag zum Verstehen von Millionen auch in europäischer Nachbarschaft mit uns lebenden Menschen getreu der Lebensweisheit: Wenn Menschen miteinander sprechen, beginnen sie, einander zu verstehen und wenn sie einander verstehen, schießen sie sich nicht gegenseitig tot.
Wie also soll man das Lebensgefühl der Menschen im heutigen Russland und den anderen Nachfolgestaaten der UdSSR verstehen, wenn man das „sowjetische Lebensgefühl“ und seine Nachwirkungen bis heute gar nicht kennt und versteht? Und – was können wir „im Westen“ anhand der aufgeführten Erzählungen in diesem Buch über uns selbst und unsere eigene gesellschaftliche Entwicklung erfahren, reflektieren und hoffentlich auch daraus lernen?
Welche Gedanken haben wir heute über die Sowjetunion und wie projizieren wir diese auf unser heutiges Bild über Russland und die anderen Nachfolgestaaten der UdSSR?
Diese Eindrücke und Gefühle beschreibt Karl Schlögel in seinem Buch „Das Sowjetische Jahrhundert“, das mit dem Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse 2018 ausgezeichnet wurde.
Schon der Titel macht deutlich, dass hier eine Verschiebung der Sichtweise auf das vergangene Jahrhundert vorgenommen wird. Dem Leser wird auf intellektuell anspruchsvolle und gleichsam unterhaltsam spannend-unkonventionelle Weise eine Schneise durch das derzeit zuweilen gefährlich wuchernde Dickicht von Unwissenheit, Russophobie und Vorurteilen geschlagen. So wird der Blick der Leserschaft auf die alltäglichen Ereignisse und kollektiv-bedeutsamen, weil prägenden Erinnerungen von fast 290 Millionen Menschen eines großen Reiches gerichtet, welches das vorherige Jahrhundert gerade auch in Europa entscheidend mitprägte.
Wussten Sie, wie das sowjetische Parfum „Krasnaja Moskwa“ roch, dessen Formel an Coco Chanel weitergegeben und die Basis des größten Erfolgs in der Parfumgeschichte des 20. Jahrhunderts wurde? Richtig, es ist die Rede von „Chanel No. 5“! Wann haben Sie jemals davon gehört, dass Jalta der „Kurort mit dem meisten Sex in Europa“ war? Wer weiß um die Enge der Gemeinschaftswohnungen, in denen Generationen von sowjetischen Menschen ihr Leben zubrachten, und wie klang die Stimme des Radiosprechers, dem sie gemeinsam lauschten? Die Datscha als Ort der Selbstversorgung und die Krisenresistenz der sowjetischen Menschen; davon erzählt dieses spannend zu lesende Buch.
Ein ganzer Abschnitt widmet sich dem auch heutzutage aktuellen Thema BIG DATA (sic!). Es wird darin beschrieben, wie in Sondermagazinen (russisch Spezchran) verbotene Literatur katalogisiert und aufbewahrt wurde. Immer wieder wurden diese „Giftschränke“ neu gefüllt, sobald ein Autor in Ungnade bei den Herrschenden fiel. Während der Perestroika von Michael Gorbatschow wurden diese Bestände seit 1987 wieder in die regulären Bibliotheken überführt. Beim Lesenden mag an dieser Stelle die Frage aufkommen, wie einfach es im Gegenzug heute im Internetzeitalter ist, „in Ungnade“ gefallene Literatur, Filme und andere künstlerische Werke in den virtuellen „Giftschrank des Nirwana“ zu verbannen oder im Internet zu blockieren. Technisch möglich ist es bereits, Inhalte von beispielsweise E-Books und Filmen zu löschen, umzuschreiben oder mit „neuen Köpfen“ zu ersetzen.
Spannend zu lesen sind auch die Erzählungen über die Landschaften, die Sanatorien und das „Leben der Dinge“. Alltäglichkeiten eben, die in die Erinnerungen von Millionen Menschen einfließen, wie auch unsere eigenen Kindheit-Jugend-/ jungen Erwachsenenjahre einen bedeutsamen Anteil in der Herausbildung unserer heutigen Weltsicht haben.
Doch unsere Zeit ist schnelllebig. Ist gerade der unsere Zukunft gestaltenden jüngeren Generation Deutschlands bewusst, dass in den europäischen Umbruchjahren am Ende der 1980er Jahre von allen Seiten immer wieder ein „Gemeinsames europäisches Haus“ beschworen wurde? Diese Worte hatte der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl zusammen mit dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Michael Gorbatschow in der Gemeinsamen Erklärung vom 13. Juni 1989 in Bonn gewählt. Und das bereits in einer Zeit, als die gesellschaftlich-politischen sowie wirtschaftlichen Unterschiede zwischen (West)Deutschland und der UdSSR weitaus größer waren als heutzutage zwischen Gesamtdeutschland und der Russischen Föderation.
Mehr als bedenklich empfinde ich es deshalb, wenn heute – nicht nur semantisch – wieder vermehrt zwischen „Europa“ auf der einen und „Russland“ auf der anderen Seite unterschieden wird. Europa endete niemals an der Elbe, nie an der Oder, sondern erstreckt sich immer noch vom Atlantik bis hin zum Ural. Die russische Hauptstadt Moskau liegt weiterhin in Europa und die meisten Menschen dieses größten Landes der Welt leben im europäischen Teil der Russischen Föderation.
Karl Schlögels Buch ist erfreulicherweise nicht moralisch-belehrend geschrieben. Es weckte auf spannende Weise meine Neugier auf das Alltägliche im Leben der Menschen dieses großen versunkenen Reiches. Dem Leser „im Westen“ eröffnet sich durch die Lektüre ein geweiteter Blick auf das vergangene Jahrhundert und somit die Chance, besser verstehen zu können, weshalb auch heute Millionen Menschen auf dem Gebiet der vormaligen Sowjetunion das 20. Jahrhundert als ein „sowjetisches Jahrhundert“ verinnerlicht haben.

Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt, Verlag C.H. Beck, München 2018, 38,00 Euro.

Stephan Giering arbeitet als freier Publizist in Berlin.