21. Jahrgang | Nummer 25 | 3. Dezember 2018

Aus Düne und Meer, Schlick und Sand

von Bettina Müller

Nach Herbst- und Winterstürmen gibt die aufgewühlte Ostsee dieses ganz besondere Rohmaterial frei: von kleinen Steinchen bis hin zu unscheinbaren Klumpen, denen man ihre wahre Schönheit noch nicht ansieht. Der Bernstein ist unweigerlich mit dem ehemaligen Ostpreußen verbunden. Generationen wachsen mit dem „Baltischen Bernstein“ auf, suchen bei der Strandlese nach Funden, Bernsteinfischer stemmen sich gegen die unberechenbaren Fluten. Vor allem in den 1920er Jahren erlebt die Bernsteinindustrie eine zunehmende Renaissance und wird zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren Ostpreußens.
Das Alter eines jeden Bernsteins übersteigt die Vorstellungskraft des Verstandes. Eigentlich sind es Baumharze, die sich zwar relativ schnell verfestigen, aber erst nach Millionen Jahren zu Bernstein werden. Ganze Bernsteinwälder entstehen dabei in der Ostsee. Das Harz kommt nie zur Ruhe, die Wellen- und die Meeresströmungen lassen es ständig in Bewegung geraten. Vor allem die ostpreußische Samlandküste oberhalb des heutigen Kaliningrads erweist sich als besonders strömungsreich, unzählige Ablagerungen lassen dort reichste Funde des „Baltischen Bernsteins“ entstehen. Die größte Umlagerung geschieht während der Eiszeit. In der Neuzeit wird Palmnicken, das heute Jantarny heißt (russisch „jantar“ – Bernstein) zur Hochburg der Bernsteingewinnung. 1870 eröffnet die Firma Stantien & Becker den weltweit einzigen Bernsteintagebau in Palmnicken im Samland, kurze Zeit später die Grube „Anna“ („Annengrube“) im nur zwei Kilometer entfernten Ortsteil Kraxtepellen. 1937 fördern circa 700 Beschäftigte bis zu 650 Tonnen Rohbernstein. Das Werk ist heute eine staatliche Einrichtung und gehört dem Kaliningrader Bernsteinkombinat.
Am 28. März 1896 kommt Toni Koy im ostpreußischen Wormditt zur Welt. Als sie fünf Jahre alt ist, zieht die Familie mit ihr und der zwei Jahre älteren Schwester Hanna nach Königsberg. Toni verspürt schon früh, dass es die Kunst ist, die sie lockt. Da die Zeichenlehrerin ihre Eltern auf ihr Talent aufmerksam gemacht hat, bewirbt sie sich an der renommierten Königlichen Kunstakademie in Königsberg, merkt jedoch schnell, dass ihr das Zeichnen doch nicht die erhoffte Erfüllung bringt. Die Anregung für ihr weiteres Studium bringt der Anhängerin des Anthroposophen Rudolf Steiner das Philosophieren über eine Saatwucherblume. So formvollendet solle ihrer Meinung nach jeder Schmuck sein. 1916 beginnt sie eine vierjährige Ausbildung an der Fachschule für Edelmetall-Industrie im hessischen Hanau, wo sie das Handwerk der Schmuckherstellung erlernt. 1921 schließlich kann sie als eine der ersten Frauen überhaupt in ganz Ostpreußen – ihr zuvorgekommen ist ein Jahr zuvor nur Käte Kienast-Bantau – eine eigene Goldschmiedewerkstatt mit kunstgewerblicher Ausrichtung in Königsberg eröffnen. 1936 legt sie in Königsberg ihre Meisterprüfung vor dem 1907 gegründeten Deutschen Werkbund (DWB) ab.
In gewisser Weise ist der aus dem Meer geborene Bernstein schon lange nicht nur Tonis favorisiertes Material, er ist auch ihr Schicksal geworden. Ein fast mystischer Stein, der durch seelische und geistige Kräfte in den Dialog mit der Künstlerin tritt, ganz allein von ihr bearbeitet wird, um den Schaffensprozess nicht zu unterbrechen und als Ergebnis nicht nur den Stein, sondern auch den Menschen gestaltet und prägt. Scharfe Facetten wie zum Beispiel bei Kristallen können nicht zum Bernstein passen, da dieser durch seine ursprünglich weiche Harzkonsistenz auch nur weiche Formen verlangt. Dadurch, dass das Eigenleben jedes einzelnen Bernsteins intuitiv herausgearbeitet wird, sind auch weitere Ornamente fast überflüssig, was die mitunter eher schlichten Silberfassungen der Bernsteine erklärt. Mit ihrem hohen Gespür für Symbolik verwendet sie zum Beispiel oft das Wellenmotiv, das an den Ursprung des Bernsteins erinnern soll. Kombiniert mit einer eher eckigen Fassung des Bernsteins entsteht so eine gewisse Dynamik, die den Bernstein fast an Land zu spülen scheint. Ihr Motto „Nicht der eigene Entwurf ist es, sondern der Stein lockt und will geschliffen werden seiner Eigenart gemäß“ setzt Toni Koy bei jeder ihrer Arbeiten um.
Sehr ursprüngliche, fast glaziale Werke entstehen, die auf die Vergangenheit des Bernsteins anspielen: Der Bernstein wird zum Fenster in die Eiszeit-Vergangenheit. Philosophische und religiöse Annäherungen in Verbindung mit einem Naturprodukt aus dem Meer spielen in Toni Koys Gesamtwerk eine deutlich übergeordnete Rolle, prägen sie nicht nur als Mensch, sondern auch als Künstlerin: „Ich empfinde die Spirale als ein Zeichen des Lebens. Sie erinnert uns daran, daß sich manche Ereignisse unseres Lebens auf einer höheren Stufe wiederholen. Es liegt an uns, was wir daraus machen.“
In den 1920er und 1930er Jahren zählt Toni Koy zu den bekanntesten Goldschmiedinnen Ostpreußens, gewinnt viele Preise, erhält Auszeichnungen. 1937 erhält sie zum Beispiel bei der Internationalen Ausstellung für Kunstgewerbe und moderne Architektur, der IV.Triennale, in Mailand das Ehrendiplom, im selben Jahr in Ausstellungsgemeinschaft mit der Staatlichen Bernsteinmanufaktur Königsberg den I. Preis.
1926 wird unter Beteiligung der Preussag AG die erwähnte renommierte Königsberger Bernsteinmanufaktur gegründet, für die Toni Koy ebenfalls Stücke anfertigt. Insbesondere die Namen Hermann Brachert und Jan Holschuh verbindet man mit der Firma, damals die größte ihrer Art in der ganzen Welt. Unter dem Leitmotiv „gute und schöne Form“ und dem damit verbundenen Anspruch, die gesamte Qualität von Bernsteinarbeiten zu verbessern, werden dort Schmuck, künstlerisch wertvolle Gebrauchsgegenstände, Objekte mit kultisch-religiösem Charakter, Bernsteinplastiken und so weiter angefertigt.
Vor allem der künstlerische Leiter Jan Holschuh zeigt sich verantwortlich für eine erhebliche Qualitätssteigerung im Bernstein-Design. Er bricht mit althergebrachten und altmodischen Konzepten, vereinigt die Kunst und den Bernstein auf höchstem ästhetischem Niveau und entreißt den Stein so vor allem auch der den Nationalsozialisten geschuldeten Trivialisierung. Nach deren Machtübernahme wird der Bernstein zweckentfremdet, verkommt zu plump-brachialen Produkten zu Propagandazwecken. Als „Deutsches Gold“ und „ausgesprochen deutsches Schmuckmaterial“ erfährt er nicht zuletzt eine Schmähung bis hin zu Bestrebungen, Mädchen und Frauen zum Tragen von Bernschmuck gesetzlich zu verpflichten, was den guten Ruf des strahlenden Bernsteins nachhaltig beschmutzen wird. Abstruse Vergleiche werden angestellt, wie zum Beispiel die hellgelbe Farbe des Bernsteins mit dem blonden („arischen“) Haar deutscher Mädchen und Frauen: „Der blonde Stein, der zugleich an deutsche Locke erinnert und reife Garbe.“
Der 2. Weltkrieg beendet Toni Koys Karriere in Ostpreußen. Gerade noch rechtzeitig kann sie mit Mutter und Schwester entkommen. In Sachsen finden sie ihre neue Heimat. Von 1945 bis 1975 ist Toni Koy in ihrer eigenen Werkstatt in Annaberg-Buchholz tätig, die lange Jahre auch Ausbildungsbetrieb ist. Den größten Teil ihres künstlerischen Nachlasses beherbergt das Deutsche Bernsteinmuseum in Ribnitz-Damgarten. Noch zu Lebzeiten hat Toni Koy Künstlerin ihre eigene Sammlung an das Museum verkauft und den Erlös dem Pflegeheim in Annaberg-Bucholz gespendet, wo die unkonventionelle, gläubige, und bis zu ihrem Tod am 14. Juni 1990 unverheiratete Künstlerin lebte.