21. Jahrgang | Nummer 21 | 8. Oktober 2018

Zu Besuch in der Nervenklinik

von Bettina Müller

Eine akute Krise führt mich eines Tages unvermittelt in einen abgelegenen Stadtteil einer Großstadt. Ein guter Freund, der aus vielfältigen Gründen die Nerven verloren hat, ist dort in die psychiatrische Klinik eingeliefert worden. Begehrt man zwecks Krankenbesuchs Einlass in die Geschlossene Abteilung, muss man klingeln. Ein freundlicher Pfleger öffnet die Tür und bringt den Besuch zum gewünschten Ziel.
Zunächst muss man einen langen und gefühlt nicht enden wollenden Gang durchwandern. Das grauweiße Linoleum hat schon bessere Zeiten gesehen, unter einem Besucherstuhl hat jemand großflächig Kaffee verschüttet. Die Patienten sind in Drei-Bett-Zimmern untergebracht, in einem Bett sehe ich einen Fixiergurt. Am anderen Ende des Gangs befindet sich der Gemeinschaftsraum. Ein großer Fernseher läuft die ganze Zeit und beschallt fast unbeachtet den Raum. Nur eine Patientin, die fast in dem großen schwarzen Sofa zu versinken scheint, starrt gebannt auf das nervenaufreibende Geschehen. Es ist eine der unzähligen und nichts sagenden Serien, in denen viel gestritten und möglichst laut gebrüllt wird. Die bulligen Serien-Polizisten sind dabei, gerade einen Streit zu schlichten. Natürlich treffen sie auf Gegenwehr, die Lage eskaliert, unvermittelt lacht die Patientin auf.
Dahinter liegt ein weiteres Zimmer. Rauchschwaden hinter der Glastür verraten bereits den Zweck des Separees. Jemand fragt mich nach Feuer, ich muss verneinen. Ein älterer Mann nähert sich, der mir bei meiner Ankunft schon auf dem langen Gang aufgefallen ist. Er geht langsam und bedächtig und manchmal bewegen sich seine Lippen, als wolle er etwas sagen. Doch er bleibt stumm, ich höre ihn nie reden. Er trägt eine seltsame rosafarbene Hose, die aussieht wie eine zu kurz geratene Schlafanzughose aus Frottee. Er wandert weiter, setzt sich hin, steht gleich wieder auf, kann nicht stillsitzen. Der Mann scheint völlig in seiner eigenen Welt gefangen zu sein. Tage später sehe ich, wie er mit dem Pfleger die Station für eine Weile verlassen soll. Der Beginn des Ausgangs zieht sich in die Länge und scheitert zunächst daran, dass der Patient nicht in der Lage ist, sich alleine wieder seine Strümpfe anzuziehen, deren er sich kurz zuvor aus unbekannten Gründen entledigt hat. Der Pfleger redet vor der Aufgangstür beruhigend auf ihn ein und streichelt kurz seinen Rücken. Dann hilft er ihm beim Anziehen und endlich können sie die Station verlassen.
Ein anderer Patient ist hingegen kommunikativer. Er ist Muslim, fragt mich freundlich nach meiner Konfession und will mich in eine Diskussion über Gott verwickeln. Im selben Moment stürzt ein kräftiger junger Mann auf mich zu und stellt sich mir vor. Seinen Namen verstehe ich nicht, er ergreift meine Hand und setzt zum galanten Handkuss an. Ein paar Tage später sehe ich ihn draußen im Garten, wo er mit seinem Betreuer ein paar Runden drehen darf. Dann muss er wieder zurück in sein Kurzzeitgefängnis.
Manchmal begegne ich dem Stationsarzt. Mit wehendem Kittel in strahlendem Weiß rauscht er an mir vorbei, seine Zeit ist knapp bemessen. Einmal treffe ich ihn, als er vom Mittagessen aus der Kantine kommt. Er schaut nicht auf, blickt wie hypnotisiert auf sein Smartphone. Ein Gespräch mit ihm über den Kranken, den man schon sehr lange und gut kennt, zu führen – unmöglich. Die neuen Datenschutzverordnungen verhindern das zuverlässig.
Das Hauptgebäude der Fachklinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie ist eine ehemalige Heilanstalt für Gemütskranke, die einmal einem am Anfang des 20. Jahrhunderts erbauten Kloster angeschlossen war, das seinen Ursprung in einem mittelalterlichen Konvent hatte, deren Mitglieder sich um Kranke und Außenseiter der Gesellschaft kümmerten. Überall erinnern Kreuze und andere Devotionalien an den religiösen Charakter der Einrichtung. Der Zahn der Zeit hat ganze Arbeit geleistet, die Zimmer sind wenig heimelig bis kühl. Auch die Kantine ist nicht sehr einladend, zweifelhafter 70er bis 80er Jahre-Charme. Sie soll bald renoviert werden. Noch dominieren Kunststoff und Plastik.
Später lerne ich auch eine der Stationen der Offenen Abteilung kennen, die nach männlichen Heiligennamen benannt sind. Eine einzige Putzfrau kümmert sich um die Sauberkeit aller Zimmer. Zwei Patienten teilen sich einen Raum, wenn der andere übermäßig schnarcht oder nicht schlafen kann, führt das zu Konflikten. Die großen Fenster in den endlos hohen Zimmern sorgen schnell für ungemütlichen Durchzug, Kälte kriecht durch den Türspalt. Das Bad muss mit dem Nachbarzimmer geteilt werden, vier Leidensgenossen benutzen eine einzige Nasszelle.
Auf der Offenen Station schließt sich die Behandlung nach der Akut-Phase an. Die Patienten bekommen einen Wochenplan, der dem Tagesablauf Struktur geben soll. Dazu gehören Arztgespräche, Ergotherapie, Sport und Bastelarbeiten wie Freundschaftsbändchen knüpfen und Weidenkörbe flechten. Ist der Patient hinreichend stabilisiert, so bekommt er stundenweise Ausgang, der langsam gesteigert wird bis hin zu einer so genannten „Belastungserprobung“. Dann darf er am Samstag nach Hause gehen und muss am Sonntagabend wieder zurück sein, ansonsten ist das Experiment gescheitert. Im Idealfall endet die Behandlung mit einem nun völlig stabilisierten Patienten, der wieder in seine gewohnte Umgebung zurückkehren darf, wobei es in der Regel einer weiteren psychologischen Betreuung bedarf, die zumeist mit der Einnahme schwerer Psychopharmaka kombiniert wird, deren Beipackzettel mit den möglichen Nebenwirkungen meterlang erscheint.
Dass es auf dem Gelände der Klinik auch noch ein Haus für unheilbare Fälle gibt, soll nicht verschwiegen werden. Selbst die Heiligen können dort nichts mehr ausrichten. Für den Namen des Hauses, in dem auch Demenzkranke untergebracht sind, wurde ein Mädchenname bemüht, der verstärkt in den 1970er Jahren Mütterherzen entzückte. Einmal steht der Leichenwagen vor dem Haus M. „Der kommt hier öfters“, flüstert mir ein alter Mann zu. Eine kleine Cafeteria im Erdgeschoß verkauft Kaffee und Kuchen. Ein junges Mädchen im Rollstuhl am anderen Tisch schreit manchmal unvermittelt auf, sie ist schwerstbehindert und wird das Haus wohl nie mehr verlassen. „Kommen Sie gut nach Hause“, sagt eine ältere Frau zu mir, als ich gehe.