von Mario Keßler
Am 30. September ist Walter Laqueur verstorben. Er gehört zu den weltweit bedeutendsten Historikern des 20. und ebenso des beginnenden 21. Jahrhunderts. Mit seinen zahllosen Werken – 48 Bücher aus seiner Feder und 28 von ihm herausgegebene Bände – hat er die Forschung zu Faschismus und Nationalismus, zu Kommunismus und zur sowjetischen Geschichte, zu Zionismus, Holocaust und Terrorismus über Jahrzehnte mitbestimmt und im Fall der Terrorismus-Forschung selbst begründet.
Walter Laqueur wurde 1921 in Breslau in einer säkular-jüdischen Familie geboren. Ende 1938 gelang ihm die Flucht ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina. Seine Eltern wurden Opfer der nazistischen Mörder. In Jerusalem wollte Laqueur Geschichte studieren, doch waren in jenen Jahren Arbeiter, Bauern und Soldaten, nicht Studenten oder Historiker gefragt. Im Kibbuz lernte Laqueur das Leben aus anderer Perspektive als jener der Studierstube kennen. Seine 1972 erschienene „Geschichte des Zionismus“ speist sich auch aus jenen Erfahrungen. Sie ging hart mit dem Grundfehler vieler Zionisten ins Gericht, nämlich ihrer Ignoranz gegenüber den Arabern. Noch härter urteilte Laqueur freilich über jene, die vergaßen, dass die jüdische Gemeinschaft in Palästina mit dem Rücken zur Wand stand; einer Wand, von der niemand wusste, wie lange sie halten würde. Er wünschte sich, sagte er gelegentlich, dass Israel zwischen Österreich und der Schweiz läge. Aber Wunschträume waren nicht das Fundament, auf dem der Zeithistoriker Laqueur sein wissenschaftliches Werk errichtete.
In Palästina und dann in Israel schrieb Laqueur, zuerst in hebräischer, dann in englischer Sprache, seine ersten Bücher über den „Faktor“ Erdöl im Nahen Osten und die kommunistische Bewegung in diesem Raum. Er arbeitete als Journalist, lernte in dieser Zeit intensiv Russisch und konnte, unter anderem als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung, die Sowjetunion bereisen. Für den Kongress für kulturelle Freiheit gab er die Zeitschrift Soviet Survey, später Survey heraus. 1964 zog er mit seiner Familie nach London, um als Forschungsdirektor der Wiener Library und des Leo Baeck Institutes zu arbeiten.
Recht spät gelang dem „Seiteneinsteiger“ der Weg in die Wissenschaft: Gastprofessuren an der Johns Hopkins University, der University of Chicago und in Tel Aviv folgten Professuren für Ideengeschichte an der Brandeis University und dann für internationale Beziehungen in Georgetown. Sein ständig wachsendes Ansehen als Zeithistoriker erwarb er sich mit Standardwerken (es folgen die Titel in deutscher Übersetzung) wie „Die deutsche Jugendbewegung“ (1962), „Deutschland und Russland“ (1965), der bereits genannten „Geschichte des Zionismus“ (1972); „Weimar – die Kultur der Republik“ (1974), „Terrorismus“ (1977), „Was niemand wissen wollte. Die Unterdrückung der Nachrichten über Hitlers Endlösung“ (1984), „Der lange Weg zur Freiheit. Russland unter Gorbatschow“ (1989), seiner Autobiographie „Wanderer wider Willen“ (1995) oder „Geboren in Deutschland“, dem Porträt seiner entwurzelten jüdischen Generation (2000), das gleichfalls starke autobiographische Züge trägt. Seine Partnerinnen Naomi (geboren als Barbara Koch in Frankfurt/Main) und, nach ihrem Tod Susie sowie seine große Familie gaben ihm und erfuhren durch ihn den Rückhalt, aus dem sich ein guter Teil seiner Produktivität speiste. Sie und seine vielen Freunde werden den Menschen, den auch ein feiner Humor auszeichnete, vermissen.
Walter Laqueur war neugierig auf Menschen. Wo immer es ihm möglich war, erschloss er sich die Wirklichkeit der von ihm untersuchten Gesellschaften durch Reisen und durch Gespräche, die er mit Menschen unterschiedlicher Überzeugung in deutscher, englischer, russischer, hebräischer und französischer Sprache führte – und zwar über fast alle Wissensgebiete, einschließlich der Geschichte des Sports, eine seiner Passionen. Aufgewachsen als nichtkommunistischer Linker, führte ihn der Abscheu vor dem Stalinismus ins liberal-konservative Lager. Dabei blieb es nicht: Die ungelösten sozialen Probleme und der Rechtsradikalismus in vielen Ländern ließen ihn in den letzten zwei Jahrzehnten seines langen Lebens an eine radikal-demokratische Linke heranrücken.
Über seine Krankheiten, die ihn in den letzten Lebensjahren ans Bett fesselten, sprach er nicht. „Es geht mir schlecht, also reden wir von etwas Besserem: Was treibst Du und was schreibst Du gerade?“, begann er meist unsere Gespräche. Einmal berichtete ich ihm von einem Konzert Charles Aznavours, das ich in New York besucht hatte. „Ich habe einem anderen jungen Alten bei der Schwerarbeit zugesehen“, sagte ich. Dies amüsierte Walter Laqueur. Nun sind sie beide fast zeitgleich gestorben, 97-jährig der eine, 94-jährig der andere – zwei große, unverwechselbare Persönlichkeiten, zwei Meister ihres jeweiligen Fachs.
Schlagwörter: Charles Aznavour, Geschichtswissenschaft, Mario Keßler, Walter Laqueur