von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Flüchtling am Berliner Bismarck-Boulevard sowie achtzig Minuten verwehter Daseinshass…
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Ach, du schönes Schiller Theater! Was für eine Eleganz, Helle, Leichtigkeit! Ein vornehmer gesellschaftlicher Repräsentationsbau aus vergangenen Zeiten, als das Theater noch felsenfest im Zentrum öffentlichen Lebens stand. Längst ist das nicht mehr so. Auch, weil sich Formen und Spielweisen gründlich geändert haben. Sie passen nun meist nicht mehr in solche großen, großartigen Hüllen. Weshalb sie – hier in Berlin – geleert wurden. Es gibt sie nicht mehr, die Staatlichen Berliner Schauspielbühnen; längst abgewickelt.
Und doch, den alten Theatergänger stimmt es doch stets frohgemut, am verwahrlosten Ernst-Reuter-Platz vorbei (ewige Baustelle) wieder in die Bismarckstraße hin zum Schiller Theater zu eilen. Erst als hier die Staatsoper Unterschlupf fand während ihrer langjährigen Restaurierung. Jetzt sind es die beiden traditionsreichen Kudammbühnen (100 Jahre! Gründungsvater Max Reinhardt), die – ein Versagen hauptstädtischer Kulturpolitik ‑ abgerissen wurden (Investorengier) und jetzt hier interimistisch spielen, bis ihnen ein neues Haus gebaut sein wird. Wann es fertig sein wird, steht in den Sternen.
Zum Start in die Interim-Spielzeiten der „Komödie am Kurfürstendamm im Schiller Theater“ war die Hütte rappelvoll mit Theaterprominenz aller Arten. Immerhin, es gibt sie noch: Großereignisse, zu denen alle, alle kommen; die Szene allein schon aus Solidarität. Die Begeisterung war riesig für John von Düffels Bühnenadaption des Simon-Verhoeven-Films „Willkommen bei den Hartmanns“. Die Komödie kam 2016 als Ruf der Stunde in die Kinos, erreichte allein in Deutschland mehr als vier Millionen Zuschauer. Sensationell.
Schon ein Jahr später brachte die Wiener Burg in ihrer Kammerspiel-Dependance Akademietheater Verhoevens die Massen so begeisternde Refugee-Welcome-Story mit enormem technischem Aufwand in der vor Fantasie schäumenden Regie Peter Wittenbergs heraus. Ein Glück (oder auch: Pech) für die Berliner, dass ihnen der Vergleich fehlt. Was da im Film wie auch in Wien wie verrückt tobt, nämlich die Wirren, die ausbrechen, wenn eine gutbürgerliche Wohlstandsfamilie Knall auf Fall einen afrikanischen Flüchtling in ihre Villa aufnimmt, das alles läuft unter Regie des Intendanten Martin Woelffer mit Düffels nett kalauerndem Text („Es gibt auch Schwarze unter den Schafen“) ausgesprochen artig ab; übrigens, auch die Wiener Textfassung war sehr viel ätzender.
Am Bismarck-Boulevard also keine kühnen Hiebe ins Groteske, Aberwitzige. Und keine frechen Ausschläge ins Klamottige. Dabei steckt doch genau das in Verhoevens Filmerfolg. Und noch dazu die wilde Mischung brisanter Situationen höchst gegensätzlicher Art, die da in hoher Geschwindigkeit wie im Artisten-Zirkus durch die Luft gewirbelt werden. Es geht da um Nazisgedöns, Asylverfahren, IS-Albträume, Terrorabwehr, Zivilcourage, Herzschmerz, Ehekrisen, Emanzipationsprobleme, Pubertätsknatsch, Egomanien, Einsamkeit, Gottlosigkeit, Gläubigkeit, Wohlstandsverhärtung, Drogen, Sex, Alkohol, Einsamkeits- und Verlassenheitselend, Fremdenangst und Flüchtlings-Traumata.
Verhoevens Kunst war, das alles zum Lachen und zum Heulen so aufregend wie wagemutig unter einen fantastischen Hut gebracht zu haben – die dritte und die erste Welt, das Helfersyndrom, das Arschlochsyndrom.
Regisseur Woelffer fand – trotz soliden Castings – keinen solchen Hut. Streckenweise erzählte er die Geschichte nüchtern wie ein Lehrstück für Integration. Gerade im ersten Teil war es nervend, wie sich die wohlfeil westlichen Wohlstandsübersättigungsprobleme bieder spreizten gegenüber den (drohenden) Problemen mit dem „Fremden“. Nach der Pause zog die Chose etwas an. Nicht etwa, weil der hinreißend sympathische Nigerianer, dessen Familie von Boko Haram ermordet wurde, etwa Ärger machte (der Schauspieler Quatis Tarkington als geradezu bezaubernder Sympathieträger), sondern, weil die „typisch Zehlendorfer“ Familie so enthemmt wie verzweifelt ihre eigenen Wunden leckt (Gesine Cukrowski, Rufus Beck, Marion Kracht, Mike Adler, Jonathan Beck, Pia-Micaela Barucki).
Die auffällig angestrengt routiniert agierenden Kollegen dürfen dem gewieften Bühnenbildner Stephan Fernau dankbar sein für die der guten Akustik dienlichen hohen Wand, die er als Fassade einer prächtigen Villa dicht hinters Proszenium setzte als Begrenzung der Spielfläche auf die Vorbühne. Die Überraschung: Sich öffnende Fassadenteile erweitern überraschend das Spielfeld. Prima Idee!
Und noch ein Problem zum Schluss: Knapp zwei Jahre nach der Premiere des Films sind die Zeiten deutlich härter geworden. Schaffen wir das überhaupt noch, lautet heutzutage die Frage. Und die AfD zieht gleich mit der SPD. Woelffers herzig hübsche, ach so gut gemeinte Inszenierung und auch Düffels Script ignorieren diese Härte. Trotzdem: Zum Schluss reagierte das Publikum begeistert. Was optimistisch stimmt.
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Seine Welt ein Würfel, etwa so groß wie die Bühne der Kammerspiele des Berliner Deutschen Theaters. Eine Kiste also, geschlossen. Sie mag passen für die manisch um sich selbst rotierenden Figuren von Thomas Bernhard, diese Gefangenen ihres eigenen Denk- und Daseinssystems. Tretmühle von Geburt an bis zum Tod, so ihr Lebensgefühl, verbunden mit Wut und Hass. Und mit schwerer Verachtung für all die anderen (Lästigen) in der Kiste: „Alles gemeine Nazis, verblödete Katholiken, bösartige Spießer, Voralpenschachdenker“ – denn wir befinden uns im Bernhardschen Wahn-Würfel namens Österreich. Und in seinem Roman von 1985 „Alte Meister“.
Da wandelt seit drei Jahrzehnten zwei Mal in der Woche der 82-jährige Herr Reger, von Beruf Musikkritiker (Musik: diese flüchtigste aller Künste), durchs Wiener Kunsthistorische Museum. Sonderlich im Bodoni-Saal bleibt er hängen (hier drastisch verkleinert auf Kammerspiel-Dimension). Jacobo Tintorettos „Weißbärtiger Mann“ hat es ihm angetan. Zur Meditation über Vollkommenes und Unfertiges, über klug Fragmentarisches oder dumm Fehlerhaftes. Gegrübelt wird übers große Ganze. Und, ach!, über die elenden Lücken dazwischen. Verluste allenthalben. Tod. Die Ehefrau beispielsweise. Vor allem aber geht es um die hartleibige, tonnenschwer verklumpte Dummheit in der in der (alten) Meisterkünstlerszene wie in der neueren austriakischen Würfel-Welt.
Kommen wir jetzt zum Knaller dieses, um es gleich zu sagen, betörenden Abends: nämlich der kühne Zusammenschluss dieses schwerblütigen Grantel-Königs, mit dem Regisseur Thom Luz (ein feiner Coup der Intendanz). Luz, noch jung an Jahren, ist quasi Bernhard-Antipode. Ein verträumter Prinz, ein freundlicher Melancholiker, dem geschlossene Systeme, dem alles (auch das rein rhetorisch) Gewaltsame, dem alles Niederkartätschen, alles Brachiale, Rasende und Rumpelstilzchenhafte zuwider ist.
Was sofort ins Auge fällt: Der Würfel ist nicht wirklich dicht, sondern ein scheinbar schwebendes, in milchig weißes Licht getauchtes, nebeliges Gebilde aus Gaze und Wänden, durch die man hindurch treten kann. Eine Skulptur aus Licht, Luft, Dampf. Ein Wunderding – signifikantes Sinnbild für das, was womöglich jenseits des düster sarkastischen (und durchaus präzisen) Menschenbeschimpfers und Weltuntergangsbeschwörers liegt – etwa die unstillbare Sehnsucht nach Leichtigkeit, Licht, Leuchten, Seligkeit. Thom Luz bringt gemeinsam mit seinem ingeniösen Bühnenbildner Wolfgang Menardi in dieser sagen wir Thomas-Bernhard-Installation-Performance das zum Leuchten was jenseits der Qualen dieses Autors liegen mag.
Das hatten wir wohl noch nie in der ruhmreichen Bernhard-Rezeption. Der krass des Lebens Wahn- und Unsinn aufspießende Bernhard-Text als entrücktes Nebelspiel. Passt aber sogar zum absurden T.-B.-Lebensgefühl. Das Nichts, oder besser: Das Kaum-Etwas oder das Sofort-Verschwindende, das Schöne und vor allem endlich auch das ach so Schlimme als letztlich herrschendes Daseinsprinzip. Das rein artifiziell zu imaginieren, darum geht es Luz.
Also flirrende Licht- und Luftbilder statt Wortgewitter, statt Hass, Furor, Verdammnis. Fantastisch! Surreal! Eine changierende Form bildender Kunst triumphiert über den erregten Text (genauer: die nach rigider Streichung übrigen Wort-Reste). Das laut Dramatische wird verwischt durch Hingabe an eine leise, edel schattierte Entrücktheit – verrückt.
Der Korrektheit halber sei vermerkt: Es gibt eine kleine Schar perfekt dressierter Bernhard-Stichwortgeber: Katharina Matz doppelgesichtig als Wiedergänger Regers aber auch als dessen verstorbene Frau sowie der Museumswärter Irrsegler, das Sprachrohr Regers, gleich in dreifacher Gestalt mit Christoph Franken, Wolfgang Menardi und Camill Jargon, der wiederum zusammen mit Daniele Pintaudi gelegentlich die Klaviertasten streift.
Freilich, auch Bernhard faszinierte sehr wohl die Schönheit – aber womöglich noch mehr das Hässliche. Bleibt die Frage, ob es ihm egal wäre, wenn sein Text rigoros beiseitegeschoben wird zugunsten einer Fantasie von Thom Luz über Thomas Bernhard. Kunstvolle Atmosphären statt stampfender Aggressionen. Womöglich würde Bernhard verständnisinnig in sich hinein lächeln angesichts des unheimlich schimmernden Nichts, das zuweilen umhüllt wird von sphärischen Tastentönen – ausgerechnet Anton Bruckners Klavierstück „Steiermärker“; der Witz: Bernhard hasste Bruckner. Und Thom Luz ist ein Schelm.
Wahrscheinlich interessierte ihn Bernhards poetisch-hysterischer Weltuntergangssound nicht wirklich – dafür umso mehr dessen Gegensatz oder das, was ahnbar darüber hinaus ragt: Nämlich, das trotz aller letzten traurigen Gewissheiten unauslöschliche Glimmen von Gelassenheit. Eine Art lebenserhaltender Schicksalsergebenheit, zögerlichen Frohsinns, abgeklärter Komik. In achtzig zauberischen Minuten ist der sanfte Spuk vorbei, diese menschenfreundliche Seance. Was für eine Seltenheit – im Himmel geerdet. Im herrlichsten Theaterhimmel.
Schlagwörter: Kammerspiele des Deutschen Theaters Berlin, Martin Woelffer, Reinhard Wengierek, Schiller Theater, Simon Verhoeven, Stephan Fernau, Thom Luz, Thomas Bernhard