von Wolfgang Klein
Kann man, in einem geschlossenen, ganz dunklen Kellerraum liegend, den Ort sehen, „an dem, ohne sich zu vermischen, alle Orte des Erdenrunds sind, von allen Ecken aus gesehen“? Jorge Luis Borges kann es:
„Im unteren Teil der Treppenstufe rechter Hand sah ich einen kleinen regenbogenfarbenen Kreis von fast unerträglicher Leuchtkraft. Anfangs glaubte ich, er drehe sich um sich selber; später begriff ich, daß die schwindelerregende Fülle dessen, was sichtbar in ihm vorging, an dieser Täuschung schuld war. Im Durchmesser mochte das Aleph zwei oder drei Zentimeter groß sein, aber der kosmische Raum war ohne Schmälerung seines Umfangs da. Jedes Ding (etwa die Scheibe eines Spiegels) war eine Unendlichkeit von Dingen, weil ich sie aus allen Ecken des Universums deutlich sah. Ich sah das bewegte Meer, ich sah Morgen- und Abendröte, ich sah die Menschenmassen Amerikas, ich sah ein silbriges Spinnennetz inmitten einer schwarzen Pyramide, ich sah ein aufgebrochenes Labyrinth (das war London), ich sah unzählige ganz nahe Augen, die sich in mir wie in einem Spiegel ergründeten, ich sah alle Spiegel des Planeten, doch reflektierte mich keiner, ich sah in einem Durchgang der Calle Soller die gleichen Fliesen, die ich vor dreißig Jahren im Flur eines Hauses in Fray Bentos sah, ich sah Weintrauben, Schnee, Tabak, Metalladern, Wasserdampf, ich sah [… vierundzwanzig weitere Male], sah das Aleph aus allen Richtungen zugleich, sah im Aleph die Erde und in der Erde abermals das Aleph und im Aleph die Erde, sah mein Gesicht und meine Eingeweide, sah dein Gesicht und fühlte Schwindel und weinte, weil meine Augen diesen geheimen und gemutmaßten Gegenstand erschaut hatten, dessen Namen die Menschen in Beschlag nehmen, doch hat ihn kein Mensch je erblickt: das unfaßliche Universum.“
Wahn, Wunder, Mystik – dem Erzähler in dem 1949 entstandenen Text „Das Aleph“ hilft schließlich nur das Vergessen. Unaussprechlich und unauflöslich scheint, was festzuhalten er unternimmt: „die Aufzählung, wenn auch nur die teilweise, eines unendlichen Ganzen […] Millionen beglückender und gräßlicher Vorgänge […, die] alle in demselben Punkt stattfanden, ohne Überlagerung und ohne Transparenz“. Körperlich ist seine Situation die des Anti-Reisenden par excellence. Geistig ist sie die des absoluten Reisenden. Er bleibt bewegungslos. Aber er sieht alles, und alles gleichzeitig. Nur weil die Sprache sukzessiv und das Alles unendlich ist, vermag er das Universum nicht erfassbar zu machen. Dies allerdings wird nie zu ändern sein. Was bleibt, sind die jeweils offenbar gewordenen Erscheinungen. Und ihr im letzten Satz festgehaltener, schnell, in der Erzählung schon nach nicht achtzehn Monaten, einsetzender Verlust im Vergessen. Man muss nicht reisen, weil alles von einem Punkt aus ersichtlich würde. Man muss nicht reisen, weil doch nichts in der Erinnerung gehalten werden kann. Wer aber reist, und sei es nur im Geiste, wird die unendliche Vielgestalt des Anderen nie vergessen.
Neben vielem, das zu diesem Text ungesagt bleiben muss und anderswo zumeist gesagt ist, bildet er – in dem das Universum erschaut wird – eine Antiglobalisierungsmetapher. So ungeheuer ist die Vielfalt der Erscheinungen, dass keine Rationalität ihr gewachsen wäre. Wohin man schaut, ist anderes, ist das Geheimnis. Auf nichts verweist es zurück, nicht einmal als Spiegel. Es ist schwindelerregend und erschütternd, und so allein ist es hinzunehmen. Niemand wird je in der Lage sein, diese Vielfalt zu Einem zu integrieren. Mystik, unvermitteltes Einssein mit Gott? Die berückende Vorstellung des Unmöglichen. Um die Vielheit zu ertragen, kann man sie nur vergessen. Kann man sie aber vergessen – nicht ihre Einzelheiten, sondern deren Existenz? Auch dies ist, jedenfalls in dieser Geschichte, Wahn. Wie man weiß, füllt der dennoch erhobene Anspruch die Zeitungsseiten und die Abendnachrichten. Deren Berichten zufolge existiert seit kurzem „die internationale Gemeinschaft“ und ist deren politische wie soziale Form in den USA und Westeuropa schon zu finden, überall sonst baldmöglichst zu implementieren. Kein Wunder, dass soziologische Anthropologen, die es besser wissen, schon auf Borges zu sprechen kommen, wenn sie noch längst nicht das Universum, sondern, so der in Mexiko arbeitende Anthropologe Néstor García Canclini, in den 1990er Jahren nur „die fragmentarische Erfahrung“ in Riesenstädten wie Mexiko D.F. oder Los Angeles zu verstehen suchen.
Allerdings: Eine Fiktion kann so enden – das Handeln im Leben nicht. Was tun? García Canclini sah zunächst die „historischen Metaerzählungen und Utopien“ verabschiedet und „statt dessen die sozialen Bewegungen mit ihren Einzelaktionen im Kurs steigen“. In der ruhevollen deutschen Mitte Europas, wo weit weniger Heterogenität weit stärkere Unifizierungsreflexe auszulösen vermag, ist bis heute – eine andere, fast entgegengesetzte Reaktionsrichtung – die „protektionistische Substanz“ der „zuwanderungspolitischen Vorstellungen“ aus der Zwischenkriegszeit wenig verändert wirksam geblieben (wie von dem Osnabrücker Historiker Jochen Oltmer zu erfahren war) und sucht auszuschließen, dass zu viel Anderes Köpfe oder gar Verhältnisse verdreht. Vereinzeln und Abschotten stehen beide aber jenen Realitäten fern, die die Zukunft ankündigen. Das zeigt eine weitere Erzählung.
Es ist wieder ein fiktionaler Text. Aber Emine Sevgi Özdamar verdichtete 1990 in „Karagöz in Alamania“, was ist und wird.
„Jugoslaw-Taxi bringen uns bis Italien. Grenze. Hundert Mark für alle Mann. Daccord. Taxifahrer hat gesagt: ‚Taxi ist kaputt, ihr braucht drei Schritte laufen, Grenze ist sowieso da.‘ Lauf, Allah, lauf. Italien-Polizei sagte: ‚Piano, piano.‘ Italien-Polis geben wir zweihundert Mark. Italien hat zuerst gesagt, nehme nicht. Wir haben gesagt: ‚Nimm, als Geschenk. Du kannst deinen Kindern, Frauen, Mutter, Vater, Großmutter, etwas schenken von uns.‘ Na, wo ist denn der Polizist. Ihn gibt’s nicht mehr. Seine Hand gibt es nur. Hinter der Wand so eine Hand. Dann lauf, Italien, lauf. Wir wollten nach Frankreich, kaufen Fahrkarten, sagten: ‚Fransa, Fransa.‘ Der Verkäufer sagte: ‚Ja, ja, Florenza, Florenza.‘ Und dann fahre, Allah, fahre. Viele Brücken, Allah, schön. Wir sagten: ‚Fransa, Fransa.‘ Der Italiener sagte: ‚Nein, Florenza, Florenza.‘ Ausgestiegen, haben wir dann gedacht, lassen wir Fransa. Gehen wir in eine Stadt, die nahe ist: München.“
Es ist ein Reisebericht. Aber diese Reise ist anders.
Bereits das Rechtschreibprogramm des PC reagiert auf ihre Hybridität: Welche Sprache wird da bloß gesprochen, was ist nicht alles „falsch“, also rot oder auch grün zu unterstreichen! Dabei stimmt alles, und bisweilen merkt das auch das Programm und nimmt nach ein paar Zeilen das Rot der ersten Irritation zurück. Dennoch überbordet diese Wirklichkeit die deutschen Regeln. Auch die Personen verstehen nicht verstehen doch, kommen aus einem ungenannten über ein inzwischen verschwundenes in ein zu durchfahrendes und statt zu dem gelobten in ein bloß nahe liegendes Land, sprechen des letzteren Sprache, aber in Semantik und Syntax seltsam, ziehen die Polizei eines EG- und bald EU-Landes in Bakschischkultur und Vielweiberei, laufen atemlos mit Allah und erkennen doch im Land der Antike als schön, was sie so nie gesehen. Sie kommen noch auf dem Landweg, und man lässt sie noch durch, irgendwie – an den Außengrenzen interniert und abgeschoben wird erst seit kürzerem. Aber das Verfolgtsein prägt schon ihre Haltung oder Bewegung, was sie tun ist illegal und, statt Begegnung der Kulturen, Migration.
Migration jedoch ist Menschenrecht, ist massenhaft, sucht Dauer und führt anderes Alltagsleben neben das eigene wenn nicht an dessen Stelle. Nach ihr entstand einmal, gewaltvoll, das christliche Europa. Wäre dieses aufgeklärt, wüsste es, dass das Universum nie schnell genug unifiziert werden kann, bevor die Mauern fallen. Borges, wie zitiert, hielt sogar erst das Uneinheitliche für das Eigentliche und jedenfalls für das Lustproduzierende. Dass Karagöz in Alamania ordentlich deutsch lernt, führt da nicht weiter, noch dazu, wenn Michel in Spanien sein Rentnerhaus so plaziert, dass er ganz ohne den Slang der Ureinwohner über den Winter kommt. Leben in der unendlichen Vielfalt ließe sich am ehesten, wenn die Feststellung in Amin Maaloufs Roman „Leo Africanus“: „Ich bin Sohn der Straße, mein Vaterland ist Karawane, und mein Leben die unerwartetste der Überfahrten“, nicht mehr unmittelbar gleichbedeutend wäre mit Ausgestoßensein, Unbehaustheit und Bedrohtheit, nicht mehr Lebenskunst zuerst als Überleben im Elend assoziierte. Migration ist Zukunft, ist potentiell gewaltfrei. Nur sind bislang die Freuden des fehlenden Wohnsitzes, der Bewegung und der Entdeckung im unendlich Vielfältigen, wenn nicht banal an Wohlstand gebunden, geistiger Natur. Für die vielen Anderen – und darunter die politischen wie, vor allem vielleicht, die wirtschaftlichen Akteure – wäre überlebenswichtig, dass möglichst viele Menschen, wie der Potsdamer Romanist Ottmar Ette schreibt, „das Wissen von anderen Orten andernorts in Umlauf bringen“ und möglichst alle dort es aufnehmen. Erstere könnten Reisende sein, letztere in Bewegung kommen.
Die Reiseliteratur und noch ihre Erforschung haben utopische Potenz.
Der Text stand 2006 im Nachwort zu dem Buch Europa. Stadt. Reisende. Blicke auf Reisetexte 1918-1945, das Beiträge zu einer Tagung über Reiseliteratur an der Universität Osnabrück sammelte.
Schlagwörter: Emine Sevgi Özdamar, Jorge Luis Borges, Migration, Reiseliteratur, Wolfgang Klein