21. Jahrgang | Nummer 22 | 22. Oktober 2018

Feindschaft aus Inkompetenz

von Erhard Crome

Eröffnungsredner der deutschen Seite beim diesjährigen Treffen des „Petersburger Dialogs“, das am 7. und 8. Oktober in Moskau stattfand, war Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Nachdem er ans Pult getreten war, riss er sich die Jacke von den Schultern und warf sie hinter sich auf den Boden. So konnte er hemdsärmelig reden. Die rhetorische Frage, ob denn die russischen Zuhörer das Saarland kennen würden, aus dem er kommt, versuchte er launig und metaphorisch gleich selbst zu beantworten. Es habe drei bemerkenswerte Saarländer gegeben: Marschall Ney war Napoleons Stabschef in der Schlacht bei Waterloo und dank seiner Fehlentscheidungen für die Niederlage des Kaisers verantwortlich; Erich Honecker hatte den Niedergang der DDR zu verantworten und Oskar Lafontaine den der SPD. Damit suggerierte er die Frage, für welchen Untergang er denn historisch verantwortlich gemacht werden möchte. Den der Regierung Merkel oder den der deutsch-russischen Beziehungen?
Tatsächlich war es Altmaiers augenscheinliche Absicht, das wirtschaftliche Interesse Deutschlands an einer Zusammenarbeit mit Russland zu unterstreichen, einschließlich der Ostseepipeline Nordstream 2. Nebenbei erwähnte er Probleme in Sachen Krim und Umsetzung des Minsker Abkommens. Über die Auswirkungen der US-amerikanischen Sanktionen auf die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen müsste ebenfalls gesprochen werden. Am Ende aber gehe es um einen gemeinsamen „Europäischen Wirtschaftsraum des Wohlstandes“. Der russische Eröffnungsredner war Michail J. Schwydkoi, Sonderbeauftragter des russischen Präsidenten für internationale kulturelle Zusammenarbeit. Er fand es bemerkenswert, wie Altmaier sich forsch seines teuren Jackets entledigt hatte – „War es von Armani?“ – und fragte, wessen er sich nun entledigen sollte. Er könnte einen Schuh ausziehen. Aber das habe bereits früher ein russischer Vertreter getan (der sowjetische Partei- und Regierungschef Nikita S. Chruschtschow hatte am 12. Oktober 1960 mit dem Schuh auf das Rednerpult in der UNO-Vollversammlung gehämmert, um seine Rede zu unterstreichen), deshalb wolle er darauf verzichten. Und riss sich den Schlips vom Hals. Bisher habe er im Sinne Lenins gedacht, dass die Wirtschaft die Politik bestimme, aber derzeit bestimme die Politik die Wirtschaft. Das müsste geändert werden. Zum Thema Krim und Ukraine unterstrich er die russische Gegenposition. Das Werteverständnis in Russland sei anders als in Deutschland. Deshalb müsse man sich gegen eine falsche Politisierung wenden. Wenn der Westen jedoch gegenüber Russland „zumacht“, hat dieses den Weg nach Osten. Dabei sei jedoch zu bedenken, dass Deutschland und Russland seit über tausend Jahren Beziehungen zueinander haben.
Wenn es die Absicht Altmaiers war, zumindest die Interessen der deutschen Exportwirtschaft an Russland zu befördern, so hat sich das politische Personal aus Deutschland dem mehrheitlich verweigert. Das Lieblingsthema der breiten GroKo (mindestens der christ- und sozialdemokratischen plus grünen Teilnehmer aus Deutschland) war eigenartigerweise der „Fall Skripal“. Ronald Pofalla, immerhin Vorsteher von deutscher Seite – nachdem der frühere DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière 2015 auf Betreiben insbesondere der Grünen Ralf Fücks und seiner Gattin Marieluise Beck als „Putinversteher“ von diesem Platz entfernt worden war –, betätigte sich wieder einmal als Wadenbeißer: die Fakten stünden „für uns“ unstreitig fest, und „wir“ – der Westen – würden eine Verletzung von Bürgern auf „unserem Territorium“ durch Giftgasangriffe nicht hinnehmen. Hier gab es keinerlei Bereitschaft, die britischen Unterstellungen gegen Russland auch nur vage in Zweifel zu ziehen. Nachdem in der Arbeitsgruppe „Politik“ das Skripal-Thema nach dem dritten Aufruf wieder etwas abgeebbt war, weil auch noch über den Nahen Osten und die deutsch-russischen Wirtschaftsbeziehungen geredet werden sollte, war es wiederum ein Grüner, der Bundestagsabgeordnete Omid Nouripour, der alle möglichen russischen „Fake News“ der vergangenen Jahre wieder aufrief und eine schärfere Gangart gegenüber Russland einforderte. Dass er nebenbei Sachwalter ukrainischer Interessen in Deutschland ist und der Deutsch-Ukrainischen Parlamentariergruppe im Deutschen Bundestag vorsteht, erwähnte er geflissentlich nicht.
Lothar de Maizière hatte in seinem Antwortschreiben an Fücks & Co. am 13. Oktober 2014 geschrieben: „Ich verkenne nicht die – auch, aber nicht nur – in Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt zu Tage getretenen Probleme sowie die unterschiedlichen Folgen, die sich aus einer ‚gelenkten Demokratie‘, die in vielem nicht westlichen Standards entspricht, ergeben. Dennoch: Gemessen an weiten Bereichen der russischen Geschichte ist die Entwicklung seit 1991 ein Fortschritt.“ Deshalb müssten die verschiedenen Gesprächsforen ausgebaut werden. „Derartige Gespräche bedingen genauso Realismus wie intellektuelle Disziplin, wozu auch gehört zu verstehen, wie Russland die Probleme versteht. […] Dabei darf keine Seite für sich in Anspruch nehmen, legitimere Interessen zu vertreten als die andere. Das heißt: Ein Gespräch ‚auf Augenhöhe‘, nicht von oben herab, nicht moralisch belehrend, aber mit klaren und ehrlichen Argumenten.“
Die Beiträge der Mehrheitsdeutschen auf dem diesjährigen Petersburger Dialog waren ahistorisch und realitätsfern. Die Argumentationen waren moralisch belehrend und unehrlich, ja verlogen. Sie waren von deutscher Besserwisserei geprägt, dem Anspruch, allein „legitime Interessen“ zu vertreten, während russische Interessen illegitim seien. Ein Bemühen um das Gespräch „auf Augenhöhe“, sofern es nicht um Wirtschaftsinteressen geht, war zumindest im Bereich Politik nicht sichtbar. Eher: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“ Die ideologischen Chiffren haben sich gegenüber denen am Beginn des 20. Jahrhunderts gewandelt, der Anspruch hat sich jedoch trotz zweier verlorener Weltkriege reproduziert.
In dem von Adelheid Bahr, der Witwe von Egon Bahr, herausgegebenen, kürzlich erschienenen Buch mit dem Titel: „Warum wir Frieden und Freundschaft mit Russland brauchen“ findet sich auch der Text der Rede, die Egon Bahr 2015 zum Thema: „Verantwortungspartnerschaft mit Moskau und Washington“ gehalten hat, darin der Satz: „Wenn amerikanisches Verhalten den Eindruck erwecken kann, Russland in die Knie zwingen zu wollen, dann teile ich die Meinung von Horst Teltschik, es sei blanker Irrsinn, das hätten schon Napoleon und Hitler versucht.“ Die heutigen deutschen Belehrer versuchen nun ihrerseits, eben diesen Eindruck zu erwecken. Sie erweisen sich dabei als Ignoranten nicht nur in einem historischen, sondern auch in einem realpolitischen Sinne – die mutwillig eine Feindschaft zu Russland (re-)produzieren, die zuallerst den deutschen Interessen schadet.