21. Jahrgang | Nummer 22 | 22. Oktober 2018

Bedingt wehrhaft

von Hajo Jasper

70 Jahre ist es nun her, dass Experten aus Justiz und Politik im August 1948 auf der Herreninsel im Chiemsee zusammenkamen, um dem (west-)deutschen Volk den Entwurf einer Verfassung zu erarbeiten. Das später vorgelegte Grundgesetz mit 149 Artikeln wurde durch den seinerzeit exekutiven Parlamentarischen Rat im Mai 1949 zum Beschluss erhoben. Zu den zahlreichen Attributen, mit denen die nun gesamtdeutsche Verfassungsdemokratie versehen wird, gehört von Anbeginn an das von deren Wehrhaftigkeit.
Erwachsen aus der bitteren Erfahrung der Weimarer Republik wollte und sollte nun auch jedwedem politischen Extremismus der Boden entzogen werden. Nach links ist dies auch umgehend und konsequent geschehen, wenn man etwa an das Verbot der KPD oder die späteren Berufsverbote denkt. In Richtung rechter Untergrabungsbemühungen der Verfassung hat sich die deutsche Justiz indes stets schwerer getan, was zumindest eingangs der BRD-Geschichte nicht zuletzt damit zu tun gehabt haben dürfte, dass das Bundesjustizministerium in der Nachkriegszeit kräftig mit alten Nazis durchsetzt war. Zwischen 1949 und 1973 waren 53 Prozent der näher untersuchten Führungskräfte (ab Referatsleiter) ehemalige Mitglieder der Nazipartei NSDAP, weist eine vom Justizministerium 2012 (!) selbst in Auftrag gegebene wissenschaftliche Untersuchung aus. Zudem war „kein einziger Richter … in der Bundesrepublik wegen im ‚Dritten Reich‘ begangener Justizverbrechen rechtskräftig verurteilt worden“, wie der Spiegel einst resümierte.
Wie merkwürdig diese Tradition der deutschen Richterschaft bis heute nachwirkt, wo personelle Verstrickungen in die NS-Justiz lange perdu sind, lässt sich in allerhand sich anbietenden Vergleichen von politisch ähnlich motivierten Vorgehensweisen veranschaulichen. Wie umgehend etwa linke Kräfte – ob Partei, Vereinigung oder Einzelperson – vom Verfassungsschutz beobachtet, Blockierer von Naziaufmärschen wegen ihres „widerrechtlichen“ Verhaltens verklagt werden (wir reden in diesem Falle nicht über linksradikale Gewalttäter) oder – wie gerade erst geschehen – Antifaschisten juristisch belangt werden sollen, wenn sie „verfassungsfeindliche Symbole“ wie das Hakenkreuz ausdrücklich zu dessen Geißelung nutzen: In dieser Richtung funktioniert Wehrhaftigkeit in der Regel tadellos. Sieht man hingegen, wie lange und mit welch desaströsem Nicht-Ergebnis das Verbot etwa der NPD hintertrieben wurde, wie Alt- und Jungnazis sich öffentlich tummeln können wie nie zuvor, ohne für ihr Tun wirklich wehrhaft zur Rechenschaft gezogen zu werden, weiß man, dass Justitia teutoniae noch immer eine einseitige Augenbinde trägt.
Da sich das an dieser Stelle nicht endlos mit Beispielen belegen lässt, empfehle ich dringend, sich in der TV-Mediathek oder unter Youtube die Phoenix-Doku „Rechtsrockland“ anzutun. Straftaten im Minutentakt, die Polizei schaut zu, die behördliche Ordnungsmacht dito. Kürzlich erst hat selbst ein „Polizeiruf“ dieses Verhängnis thematisiert. Nicht dass nun das Krimisujet im Fernsehens die Realität 1:1 spiegeln muss, wie hier aber das unerklärte, Rechtsradikale schonende Zusammenspiel von staatlichen Institutionen des Gewaltmonopols  (Polizisten, Anwälte, Richter, Lokalpolitiker) abgebildet wird, dürfte – zumal ganz sicher gründlich  recherchiert – exemplarisch sein. Wehrhaftigkeit? Nebbich!
Aber es geht freilich noch weiter, denn kommt es unvermeidbar doch zu Verfahren gegen Rechtsextremisten aller Couleur, dann startet ein weiterer Akt einer rechtlichen „Ohnmacht“, eine Prozessführung, bei der die Rechtsvertreter der Angeklagten mit jenen der Anklage und des Gerichtes unbehelligt Katz und Maus spielen und die wehrhafte Demokratie vor aller Augen lächerlich machen können. Allein die Dauer des Verfahrens gegen Zschäpe und Co., samt der zumindest für die Mitangeklagten lächerlichen Strafbemessung und den nach wie vor vernebelten Hintergründen, in dem die Verfolgungsbehörden eher eine verschleiernde als eine aufklärende Rolle gespielt haben, hat das jüngst hinreichend veranschaulicht. Von den 37 Millionen Euro, die der Steuerzahler für das mehr als dürftige Ergebnis einer fünfjährigen Verhandlung zu berappen hat, reden wir hier gar nicht erst.
Ein weiteres Debakel für die „wehrhafte Demokratie“ findet soeben in Koblenz statt – beziehungsweise sollte dort stattfinden. Begonnen hatte das Ursprungsverfahren im August 2012, nachdem die Gruppe „Aktionsbüro Mittelrhein“ zuvor diverse Gewalt-Aktionen organisiert und koordiniert hatte, die – wiederum laut Spiegel – zur Errichtung eines Staates nach dem Vorbild des Dritten Reichs führen sollten. Die Anklage lautete immerhin: Bildung einer kriminellen Vereinigung, Körperverletzung, schwerer Landfriedensbruch, Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen. Von ursprünglich 26 Angeklagten waren aber bald nur noch 17 übrig, konstatiert der Spiegel. „Aus den Reihen der zeitweise 52 Rechtsvertreter, darunter auch einige ‚Szene-Anwälte‘, wurden insgesamt 500 Befangenheitsanträge, 240 Beweisanträge und 400 Anträge zum Verfahrensablauf gestellt.“ Das alles hat diesen Prozess so lange hingezogen, dass er letztlich abgebrochen werden musste, weil zuletzt der Vorsitzende Richter ausfiel – er hatte die Pensionsgrenze erreicht. „Nach mehr als vier Jahren und 337 Verhandlungstagen“, so nochmals der Spiegel, „wurde der Prozess ‚wegen des Verfahrenshindernisses der überlangen Verfahrensdauer‘ eingestellt. Ohne ein einziges Urteil.“
Den Beginn für die Wiederaufnahme dieses Verfahrens in der vergangenen Woche schildert der Berichterstatter des Magazins so: „Auf den Fluren des Landgerichts Koblenz herrscht an diesem Morgen eine Stimmung wie beim Treffen einer großen Sippe. Die Angeklagten, ihre Frauen und Verwandten stehen in losen Grüppchen beisammen, Kinder werden begutachtet, die Laune ist prächtig. Auch im Saal 128 wird das Wiedersehen gefeiert, begrüßen sich die Anwälte per Handschlag: ‚Lang ist’s her!’“ Und weiter: „Ein Angeklagter trägt einen Hoodie mit der Aufschrift ‚Braun ist Trumpf‘, ein anderer ein ‚Solidarität mit Ursula Haverbeck‘-T-Shirt und sein Töchterchen auf den Knien, bis ein Gerichtsdiener das herzige Geschaukel unterbindet. Der Aufzug der Beschuldigten reicht von soldatisch bis clownesk. Es wirkt alles wie ein großer Spaß.“ Ein Spaß, der umgehend zur Gaudi wird, als der Richter nach der Eröffnung der Verhandlung ein Attest des Angeklagten L. verliest, der dank einer Gastroenteritis (zu Deutsch Durchfall) krankgeschrieben ist. Kaum, dass die Staatsanwaltschaft die Abtrennung des Verfahrens gegen L. beantragt, widersprechen L.’s Verteidiger und legen Einspruch ein. Ergebnis: Der Prozess, kaum begonnen, wird wieder abgebrochen und vertagt. Wer da – wieder einmal – wen vorgeführt hat, muss hier nicht expliziert werden.
Nimmt man die genannten und viele ungenannte Beispiele für Justizias Defensivität gegenüber rechten Rechtsverletzern zusammen, drängt sich nahezu die Frage auf, wie es um jene Wehrhaftigkeit unserer Demokratie bestellt ist, die eigentlich aus den üblen Erfahrungen der Vergangenheit ein solch ausdrücklicher Verfassungsgrundsatz geworden ist. „Die Seele der Rechtsprechung sitzt unter dem Talar“, hat Tucholsky einst angemerkt. Und die Talare lassen sich geduldig vorführen, mal um mal.
„Bedingt wehrhaft“ ist wohl das mindeste, was unserer Demokratie zu attestieren ist.