von Joachim Lange
Die Salzburger Festspiele haben eine Tradition, die zum Teil selbst das Programm diktiert – wie im Falle des „Jedermann“. Der ist immer noch das Markenzeichen und der Kern des Programms. In diesem Jahr kehrten mit Gottfried von Einems „Prozess“ und Hans-Werner Henzes „Bassariden“ aber auch Werke nach Salzburg zurück, die hier einst uraufgeführt wurden.
Man könnte diese Festspiele auch ein Mehrsparten-Haus de luxe auf Zeit nennen, das in besondere Weise mit der Geschichte Europas verbunden ist. Dazu gehört, dass die Festspielleitung keine echten Grenzen beim Zugriff auf Spitzen-Orchester, die das Festspiel-Hausorchester Wiener Philharmoniker hier und da ergänzen, kennt. Und dass sie mit allen denkbaren Möglichkeiten reagieren kann, wenn es mal einen der Stars so auf die Bretter haut, das er nicht spielen oder singen kann. Wie in diesem Jahr. Da musste gar der amtierende Jedermann Tobias Moretti ein paar Mal vertreten werden. Was Philipp Hochmair aus dem Stand übernahm und zu einem Triumph für sich machte. Ebenso wie die Sopranistin Malin Byström, die für Asmik Grigorians, den aktuellen Star des Oper-Festspieljahrgangs, als Salome einspringen musste. Am Vortag noch in Stockholm und am nächsten Abend in der Felsenreitschule als mörderisch lüsterne Prinzessin. Solche Geschichten gibt’s in Salzburg sozusagen obendrauf. Auch die grandiose Sophie Rois hatte es erwischt – sie gehört in den Kreis der Ex-Volksbühnendiven, mit denen Frank Castorf auf der Perner-Insel in Hallein, vor den Toren Salzburgs, vorexerzierte, dass er nicht nur aus Dostojewski-Romanen, sondern auch aus Vorlagen des Norwegers Knut Hamsun sein Groß-Theater machen kann. Allerdings sprang für Rois niemand ein – hier wurde an dem maßlosen Über-Sechsstünder einfach gekürzt, ohne dass man dadurch schon in die Nähe eines „normalen“ Theaterabends geschrumpft wäre. In Salzburg gehört das ebenso zum Selbstverständlichen, wie die regierende Politprominenz, die sich die Ehre gibt …
Aber eigentlich gilt’s natürlich der Kunst. Und da war ein Festspieljahrgang zu bestaunen, mit dem Intendant Markus Hinterhäuser seinem Ruf, intellektuelle Ambition mit dem Instinkt für Überraschendes im Bekannten zu verbinden, besonders in der Oper durchaus gerecht wurde. Auch wenn die Auswahl der Titel ein wenig nach einem Für-jeden-etwas aussah. Was aber bei den Kartenpreisen ja nicht schlimm wäre.
Mariss Jansons und Hans Neuenfels für Tschaikowskis „Pique Dame“ im Großen Festspielhaus zusammenzubringen, war da noch das geringste Risiko. Jansons ist allseits unumstritten und hat eine schon oft bewiesene Affinität zu Tschaikowski. Auch aus den Wiener Philharmonikern kitzelte er so etwas wie ihre russische Seele heraus. 2001 hatte Neuenfels (der heute 77-Jährige war damals noch ganz der notorische Provokateur) das Festspielpublikum mit einer „Fledermaus“ zur Weißglut gebracht. Mittlerweile ist er bei seinem Altersstil angekommen. Der zielt vor allem auf den Kern der Werke, legt konsequenter und klarer als früher Verborgenes offen, treibt ins Psychologische, stiehlt sich aber dennoch nicht in schmerzfreie Unverbindlichkeit davon. Ein Höhepunkt: das Zusammenspiel der mit imponierender vokaler Präsenz und Gestaltung gezeichneten Gräfin von Hanna Schwarz und des stürmischen, virile Männlichkeit ausstellenden Brandon Jovanovich als Hermann.
Dass bei Neuenfels eine offensichtlich formierte, ja uniformierte Gesellschaft das Individuelle ausschaltet und der große Auftritt der Zarin eine Alptraum-Vision des leibhaftigen Todes ist, verweist auf die Manipulierbarkeit und Verführbarkeit der Massen.
Das ist überhaupt in vielerlei Gestalt ein Grundmotiv der szenischen Annäherungen, die allesamt von einem starken ästhetischen Ausdruckswillen leben.
In Hans Werner Henzes (in Salzburg 1966 uraufgeführten) „Bassariden“ ist die Verführbarkeit das Thema – mit Kent Nagano am Pult der Wiener Philharmoniker und Regisseur Krzysztof Warlikowski in einer Mischung aus musikalischem Glanz und szenischer Sinnlichkeit. Beim Frontalangriff des Dionysos, des Gottes der Sinnlichkeit, auf die Bastionen des Gezügelten geht es zugleich eher um eine psychologisierende Selbsterforschung, die mit Bildern sexueller Enthemmung (à la Pasolini) spielt. Doch die Verführbarkeit der Massen durch Demagogen wird in ihrer blutigen Konsequenz (die Mutter zerfleischt im Rausch den eigenen Sohn, weil sie ihn für einen Löwen hält) zur packend assoziierten Warnung.
Das gelingt auch Jan Lauwers mit Claudio Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“, also mit einem Werk aus den Anfängen der Oper. Die musikalische Spitzenqualität war durch William Christie, seine Alte-Musik-Virtuosen von Les Arts Florisants und ein referenzverdächtiges Protagonisten-Ensemble garantiert. Dem flämischen Allrounder und Opernneuling Lauwers gelingt szenische eine selten erlebte Sinnlichkeit. Den Aufstieg der ehrgeizigen Kurtisane Poppea zur Kaiserin an Neros Seite macht er mit 17 Tänzern, die das Geschehen in Bewegung und lebende Bilder übersetzen, erfahrbar. Diese Opulenz macht die „Zustände wie im Alten Rom“ zum Erlebnis!
Für die Festspielsensation sorgte aber die „Salome“, für die Hinterhäuser Romeo Castellucci und Franz Welser-Möst zusammengebracht hat. Eine Künstlerkombination, auf die man nicht so ohne weiteres gekommen wäre. Doch nicht nur Welser-Möst erwies sich als genau der Richtige am Pult des Wiener Spitzenorchesters. Auch der manchmal kryptische Italiener hatte mit seiner Symbolsprache das für ihn „richtige“ Stück erwischt. Dass sich Asmik Grigorians, die Interpretin der Titelpartie, als eine Entdeckung – wie zuletzt Anna Netrebko vor zwölf Jahren – erwies, war dann das Sahnehäubchen. Dabei gibt die Szene nicht mal auf alle Rätsel eine Antwort, die sie auf den goldblanken Boden vor der Wand mit den im gleichen Material-Imitat verschlossenen Arkaden der Felsenreitschule stellt. Der Tanz der Salome findet hier nur im Graben und in den Köpfen aller anderen statt. Der Prinzessin präsentieren sie einen Rumpf. Ohne Kopf. Castellucci hat die volle Souveränität über die Szene: als Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner sowie Lichtdesigner. Diesmal zündet sein Spiel mit kargen Symbolen im archaischen Raum auch sinnlich, fügen sich die vielen kleinen Rätsel zu einer großen Antwort.
Dass ausgerechnet die „Zauberflöte“ aus der Reihe der gelungenen Neuproduktionen tanzte, ließ sich verschmerzen! Der Mozart-Dauerbrenner jedenfalls hat genügend Fans, denen es ganz egal ist, in welcher äußeren Form er daherkommt. Regisseurin Lydia Steier offenbarte im Großen Festspielhaus allerdings eher die Schwächen dieser Melange aus kinderkompatiblem Zirkuszauber für’s Vorstadtpublikum, Freimaurerkult und Texten, denen man besser nicht allzu genau zuhört. Da hilft es auch nicht, die gesprochenen Dialoge in eine Märchenbuch-Variante zu verwandeln, die Klaus Maria Brandauer als Großvater den drei Knaben vorliest, die in die ins Vorkriegsjahr 1913 verlegte Handlung gleiten. Und ein Sarastro mit Frack und Zylinder als eine Figur zwischen Klischee-Kapitalist und Zirkusdirektors – da wirkt sogar Matthias Goerne als Bariton auf Bass-Abwegen nicht wirklich überzeugend. Die „Zauberflöte“ höchstens als ein Weltkasperletheater. Mit proletarischem Hammer-und-Sichel-Personal und Isis- und Osiris-Fahnen im Sowjetstil. Selbst die Wiener Philharmoniker unter Constantinos Carydis können das im Großen Festspielhaus nicht wirklich retten. Kein Fiasko, aber beim sonstigen Niveau: die Opern-Enttäuschung der Festspiele.
Das Ausrufezeichen hinter den Premierenreigen blieb dann zu guter Letzt dem Schauspiel vorbehalten: Regieaufsteiger Ulrich Rasche mit den „Persern“ des Aischylos! Dieser Wiedergänger von Einar Schleef nimmt den Text in Durs Grünbeins exzellenter Übertragung Wort für Wort auseinander, haut jedes in Stein und setzt sie wieder zusammen. Im Korsett einer minimalistisch, suggestiven Tonspur. Einhämmernd. Skandierend. Unerbittlich. Das Herausschleudern der Worte aus der Bewegung des ganzen Körpers beim nie endenden Schreiten auf zwei rotierenden Scheiben, bringt eine Form- und Wortstrenge in ein Theater zurück, das gerne mal auf beides pfeift. Vorn drei Frauen in Persien daheim. Auf der Scheibe dahinter wird der Bericht des Boten vom Schlachtendesaster der Perser zum atemberaubenden Ereignis. Der 15-Mann Chor übernimmt – angekettet wie auf einer Galeere – mit der eskalierenden Brutalität der Worte.
Es gibt eben Stücke, die altern nicht. Und es gibt Regisseure, die daran keinen Zweifel lassen.
Neben den Premieren gab es noch eine Rossini Übernahme von Cecilia Bartolis Pfingstfestspielen, einen konzertanten „Prozeß“ des Jahresjubilars Gottfried von Einem und die „Perlenfischer“.
Streitbare Kunst auf höchstem Niveau, die die warnenden Zeichen an der Wand der Gegenwart liefert.
Nicht übel als Festspiel-Fazit.
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