21. Jahrgang | Nummer 19 | 10. September 2018

Sturmflut auf Rügen

von Dieter Naumann

Sturmfluten an Rügens Küsten werden – vereinfacht dargestellt – durch folgende Wetterentwicklungen hervorgerufen: Weht der Wind mehrere Tage von West/Südwest, drückt er das Wasser in die östliche Ostsee hinein. Wenn dann plötzlich Ost- und Nordoststürme wehen, treiben sie die großen Wassermassen vor sich her, stauen sie an, um sie dann mit Gewalt über das Land zu ergießen (Badewanneneffekt). Eigentlich müsste an der Ostsee von Sturmhochwasser (statt von Sturmflut) gesprochen werden, da es hier keine großen Gezeiten mit Ebbe und Flut wie an der Nordsee gibt. Dennoch bürgerte sich im 19. Jahrhundert mit der „Sturmflut von 1872“ der Begriff auch für die Ostsee ein. Nach der Wende blieb es dabei, nachdem in der DDR Wasserstände mit mehr als einem Meter über Normal als Sturmhochwasser bezeichnet wurden.
Eine erste Sturmflut vor Rügen wird in einigen Chroniken für das Jahr 1044 erwähnt, bei der Ralswiek ziemlich unter Wasser gestanden haben soll; über weitere Schäden ist nichts mehr bekannt geworden, es war jedoch die Rede von der „Ungeheueren Sturmflut der Ostsee“. Über weitere derartige Ereignisse im 14. Jahrhundert sind die Überlieferungen konkreter. Der Reiseführer von Dunker von 1895 schreibt: „Die Sturmfluth vom 1  November 1304 soll den Süden der Halbinsel Mönchgut mit den Kirchspielen Ruden und Carven abgerissen und verschlungen haben.“ Der Sage nach soll die Flut an Allerheiligen die Strafe dafür gewesen sein, dass ein Weib Brot als eine Art Steg in den schmalen Wasserlauf zwischen Mönchgut und Festland geworfen hatte. Diese Sturmflut soll das „Neue Tief“ zwischen der Südspitze Rügens und der Insel Ruden geschaffen und damit die Verbindung Stralsunds zum offenen Meer an Mönchgut vorbei ermöglicht haben. Bis zur Entstehung dieses Tiefs, einer nur etwa drei Meter tiefen Rinne, war die Einfahrt in den Hafen von Stralsund sowie in den Greifswalder Bodden von Osten nur über das „Ost-“ oder „Alte Tief“ zwischen Ruden und der Insel Usedom und von Westen über den Sund möglich.
Über die große Sturmflut vom 12. und 13. November 1872 – sie gilt als das stärkste je gemessene Flutereignis an der deutschen Ostseeküste und bildet bis heute den Maßstab für Aufbau und Unterhaltung des Küsten- und Hochwasserschutzsystems – liegen genauere Berichte vor. Zunächst hatte ein Weststurm große Wassermassen durch das Kattegatt bis in die östliche Ostsee gedrückt. Ein plötzlicher Nordostorkan presste das angestaute Wasser schließlich gegen die rügensche Küste. Der Ruden verlor auf ganzer Länge an seiner Ostseite 20 bis 26, an der Westseite zehn bis 13 Meter. Hiddensee (in Neuendorf blieben von 57 Häusern nur vier verschont), der Bug und die Schaabe wurden von den Wellen durchbrochen, in der Stubnitz die ältesten Bäume entwurzelt und alle Landungsbrücken der Badeorte zerstört. Auf Mönchgut wurden die Dünen bei Göhren und Thiessow vernichtet. Allein in Lobbe, Thiessow, Groß und Klein Zicker wurden mehr als 50 Häuser zerstört oder schwer beschädigt
Am 12. November 1872 trieb der Sturm Wasser über die Ufer und Häuser standen schnell unter Wasser. In großer Eile wurden der Hausrat und die Möbel auf die Dachböden geschleppt. Die Strömung stieg aber immer weiter an, wühlte die Lehmwände der Häuser auf und stieg schließlich bis zu den Rohrdächern. Die Bewohner flüchteten in die Dachsparren. Vieh ertrank, Hausrat wurde fortgeschwemmt, die Häuser drohten einzustürzen. Der Sturm dauerte noch zwei Tage und Nächte, die erschöpften Bewohner der Hausruinen konnten aber gerettet werden.
Der Sturm war so stark, dass vom Schiff eines Fischers, das auf dem Zickersee vor Anker lag, die Ankerkette brach. Das Boot wurde nach Klein Zicker getrieben, schlug dort über die einen Meter hohe Hofmauer des Grundstücks von Andreas Thietz und zerstörte dessen Wohnhaus.
Zu dieser Sturmflut existiert jedoch auch eine Episode, die Wolfgang Rudolph in seinem Heimatbuch von 1953 nacherzählt: In Venzvitz bei Poseritz vermisste man in den Wirren der Sturmflut den Oll Büchsenschuß und gab ihn nach vergeblicher Suche schon verloren. Als die Flut allmählich zurückging, hörte man jedoch Hilferufe und fand Büchsenschuß auf dem Dachboden seines Hauses, wie er sich verwundert die Augen rieb. Es stellte sich heraus, dass der Alte dort warm und trocken die Nacht verbracht und die ganze Sturmflut verpennt hatte! Büchsenschuß war im Krug gewesen, und da es „‘ne bannig kolde Nacht“ war, „do hew ich düchtig inheet. As ick no Huus käm, wier ick beten lustig un fidel, un do dücht mi: de Olsch krakeelt doch man wedder […] un langt na de Broatpann. Also legg Di man glieks up’n Hööhböön un sloop Di ut. Dat hew ich doon […].”
Ähnliche Verwüstungen richteten an der Ostseite der Insel die Sturmfluten der letzten Dezembertage von 1904 und 1913/14 an. So berichtet das Rügensche Kreis- und Anzeigeblatt vom 11. Januar 1904 über die Folgen der Flut bei Breege: „Der Vorstrand ist hier um 5 bis 10 Meter gewachsen. Die schon zum Teil fertig gestellte Dünenpromenade hat die See verschlungen und soll an dieser Stelle auch nicht mehr angelegt werden. Seit drei Tagen ist die hiesige Badeverwaltung mit ca. 15 Wagen dabei, die fortgerissenen Badeanstalten mit allem Zubehör, welches teils in den Zellen, teils in den Aufbewahrungsschuppen am Strande untergebracht war, wieder heimzuholen.“ Von der Gaststätte auf der Seebrücke von Binz war nach der Flut nichts mehr zu sehen, zahlreiche Häuser wurden abgedeckt, das Herrenbad wurde teilweise zerstört, in Baabe mussten Bewohner vor den Fluten auf die Dächer ihrer Häuser flüchten, in Glowe wurden zehn Fischerboote sowie das Badehaus und die Brücke zerstört und im Wieker Hafen wurde der Dampfer „Caprivi“ beschädigt. Aus der allgemeinen Not eine Tugend machte Unternehmer A. Mohnke, Besitzer des Hotels „Fürst Blücher“ in Binz, der einen bei der Flut gestrandeten Zweimast-Segelfrachtkahn aufkaufte und zum originellen Schiffsrestaurant „Fliegender Holländer“ umbaute.
Die Flut von 1913/1914 schwemmte die Thiessower Landungsbrücke fort, nachdem sie – am 26. Januar 1912 von schwerem Eisgang zerstört – erst kurz zuvor wieder aufgebaut worden war. In einem von der Badedirektion herausgegebenen Prospekt „Ostsee-Freibad Sassnitz […]“ von 1927 heißt es, dass bei dieser Sturmflut „auch die neben der Promenade entlang führende Kanalisationsleitung vernichtet [wurde]. Von Regierungsseite wurde der ganze Schaden auf 70 000 Mk. berechnet.“
Lange Zeit nahm man an, dass die zerklüftete Küste Rügens überhaupt ein Werk der Sturmfluten gewesen sei. So schrieb der Reiseführer von Dunker 1888: „Die Insel hat durch das in Folge von Sturmfluthen von allen Seiten tief eingedrungene Meer, welches eine Unzahl grosser und kleiner Binnenwässer – Wieke und Bodden genannt – geschaffen hat, eine ausserordentlich zerrissene Gestalt.“ Spätestens im Reiseführer Grieben von 1902 – 1903 ist dann aber zu lesen, dass „die jetzige zerrissene Gestalt… nicht von den Sturmfluten (stammt), sondern von der Thätigkeit der Gletscher innerhalb der letzten Eisperiode“.
Schon recht früh wurde versucht, den Zerstörungen durch Wind und Wasser, erst recht durch die Sturmfluten, vorzubeugen – mit erheblichem Aufwand, wie das Beispiel Göhren zeigt: 1885 wurde am Göhrener Höft der erste Steinwall errichtet, den die Sturmflut von 1904 jedoch auf einer Länge von 400 Metern aufriss. 1907/08 wurde für rund 135.000 Mark ein neuer Steinwall in 30 Meter Abstand vom Böschungsfuß errichtet, den die Sturmflut von 1913/14 erheblich beschädigte. Rund 60.000 Mark wendete man deshalb 1925 bis 1927 auf, um den Wall auszubessern.
An vielen Küstenorten der Insel finden sich Hinweise auf frühere Sturmfluten. So sind an der Giebelseite eines heute noch von den Fischern genutzten Gebäudes am Weststrand von Thiessow – kaum noch erkennbar – mit Teer Wasserstandsmarken von Sturmfluten vermerkt, so von 1913, 1942, 1944 und 1949. Ende März 2017 wurde ein rekonstruiertes Verzeichnis von Sturmfluten am Naturstrand von Thiessow aufgestellt.