21. Jahrgang | Nummer 19 | 10. September 2018

Schwarz-Rot-Gold

von Stephan Wohanka

Es ist zu lesen: „Schon im Voraus hat die AfD strenge Verhaltensregeln für den ‚Schweigemarsch‘ (in Chemnitz aus Anlass eines Mordes während eines Stadtfestes – St.W.) ausgegeben: kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Transparente oder Flaggen – außer Deutschlandfahnen, natürlich“.
Wieso „natürlich“?
Wieso ist es natürlich, dass AfD und auch Pegida sowie ihre Ableger quasi das Monopol haben, bei Aufmärschen die schwarz-rot-goldenen Bundesflagge vor sich herzutragen? Und dass die Gegendemonstranten auf diese offenbar bewusst verzichten und beispielsweise die Regenbogenfahne der Schwulenbewegung, Gewerkschaftsbanner oder andere „bunte“ Fahnen, Elemente oder Symbole mit sich führen? Letztere wollen damit für eine multikulturelle „bunte Republik“ wider eine einfarbig „braune“ stehen. Der geschlossene „deutsche“ Fahnenwald dagegen will Stärke und Geschlossenheit demonstrieren. Beide wollen ein Weltbild vermitteln. Ich halte diese Praxis für zweifelhaft.
Zwar zeichnet sich die politische Kultur hierzulande – im Unterschied zu anderen europäischen Ländern, namentlich unseren Nachbarn wie Frankreich und Polen – bei Verwendung nationaler Symbole bis heute durch eine gewisse Askese aus. Die Erinnerung an den Missbrauch derartiger Symbole im 20. Jahrhundert ist im sozialen Gedächtnis der Menschen präsent. So erscheint vielen, namentlich „Linken“, ein unbefangener Umgang mit patriotischen Sinnbildern immer noch schwer möglich. Diese Zurückhaltung bezieht auch die Farben Schwarz-Rot-Gold ein. In den letzten Jahren allerdings meinen Beobachter, einen vorsichtigen Trend ausmachen zu können, wonach es auch für Deutsche wieder „normaler“ wird, sich zu ihrem Land zu bekennen und nicht zuletzt die Nationalfarben zu zeigen. Vor allem bei internationalen Sportveranstaltungen wie beispielsweise dem „Sommermärchen“ 2006. Ich sehe darin eher einen (Fußball)Rausch, der das Land – im konkreten Fall – einen Monat lang besoffen machte. Die Euphorie verfliegt regelmäßig so schnell, wie sie aufkommt.
Die schwarz-rot-goldene Bundesfahne, und zwar ganz unpathetisch, ist das Symbol unseres demokratischen Gemeinwesens, das es gegen zunehmende Angriffe von rechts zu verteidigen gilt. Denn es mehren sich die Stimmen, die nicht zu Unrecht davon sprechen, die AfD wolle „unseren Staat angreifen“. Eine bezeichnende Verkehrung dieses Vorwurfs lieferte dieser Tage Marc Jongen, wahlweise firmierend als „Vordenker“ oder als „Chefideologe“ der AfD: „In Chemnitz inszeniert sich das letzte Aufgebot antideutscher Agitpropbands (gemeint ist der Auftritt von Musikgruppen im Rahmen des Konzerts „Wir sind mehr” als Reaktion auf die rechten Aufmärsche zuvor – St.W.) als Anwalt der ‚Toleranz‘ – in Wahrheit geht es um die Abschaffung Deutschlands“.
Ich bin immer noch der Meinung, dass dieser Staat trotz seiner Schwächen, Versäumnisse, Mängel und der Inkompetenz mancher Regierender, an deren kritischer Betrachtung gerade das Blättchen einen hervorragenden Anteil hat, der beste und vor allem – schauen wir uns die neuere deutsche Geschichte doch an – der nachhaltigste ist, den dieses Land je hatte: Das Kaiserreich von 1871 bis 1918 brachte es auf 47 Jahre, die Weimarer Republik gerade mal auf 15. Gut – dann sollten es Tausend Jahre werden, die auf zwölf der in summa verheerendsten deutscher Geschichte zusammenschnurrten. (Gottseidank; man stelle sich vor, es wäre andersherum – zwölf Jahre anvisiert und dann 1000 Jahre Spuk …). Die DDR konnte noch ihren 40. Jahrestag begehen, ehe sie implodierte.
Das in Rede stehende Gemeinwesen, die Bundesrepublik, gründet auf einem lex fundamentalis, dem Grundgesetz, das die politische und rechtliche Grundordnung des Landes fixiert. Darin heißt es in Artikel 22 (2): „Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold.“ Nun frage ich mich schon seit geraumer Zeit, warum erklärten Gegnern dieses Grundgesetzes von dessen Befürwortern und Verteidigern das deutlichste äußere Symbol – eben die Fahne – freiwillig überlassen wird? Müssten nicht gerade Letztere diese hochhalten?
Wie oben schon gesagt, beide Kollektive stehen für politische Weltsichten. Insofern ist die „Fahnenfrage“ nur ein Symbol für die unterschiedliche Deutung dessen, was dieser deutsche (National)Staat sei, was ihn ausmache, was seine Wurzeln wären. Große Fragen; grundlegend ist – so denke ich – für deren Beantwortung die Sicht auf das (Staats)Volk: Versteht man dieses als Ethnie, dann konstituierte sich die Nation über Abstammung, „Blut“, „Wir und die“, oder versteht man es als Demos, dann steht die Gleichheit der Menschen, ihre Qualität als Citoyen, als Wahlbürger im Focus.
Die emotionale Verbundenheit mit der Nation über Sprache, Kultur, Geschichte, ja Affekte und Heroismus wird je nach Standpunkt dann mehr oder weniger stark gewichtet. Geht man in ebendiese deutsche Geschichte zurück, so zeigt sich, dass das heutige politische Gemeinwesen nicht aus „der Nation“ entstand, sondern sich über langwierige politische und soziale, demokratisch inspirierte und lange vergebliche Auseinandersetzungen als notwendiger nationaler und politischer Bezugsrahmen für freie und gleiche Bürger herauskristallisierte. Übrigens – die Farben Schwarz-Rot-Gold stammen aus der Zeit dieser Kämpfe; auf der Fahrt zum Wartburgfest 1817 trugen die Teilnehmer bereits schwarz-rot-goldene Kokarden und ein Lied mit der Textzeile „Stoßt an, Schwarz-Rot-Gold lebe!“ gilt als die früheste Erwähnung des Dreiklangs Schwarz-Rot-Gold. Letztlich kam es zur Nationwerdung Deutschlands dadurch, dass sich Preußen schließlich im 19. Jahrhundert durchsetzte und Deutschland als einheitlichen Staat konstituierte …
Nehme ich diesen geschichtlichen Prozess sowie die Verheerungen, die über Deutschland kamen, als seine extreme völkische Rechte die absolute Macht an sich riss, so ist mir die Identifikation mit den Prinzipien, Institutionen und Verfahren des Verfassungsstaates deutlich näher als die Berufung auf ethnische Wurzeln. Die Staatszugehörigkeit kann daher meines Erachtens nicht auf ethnischen, kulturellen oder sprachlichen Aspekten, sondern lediglich auf gemeinsam geteilten politischen Werten, die im Grundgesetz niedergelegt sind, basieren. Vergleichbare Auffassungen müssen auch anderswo Pate gestanden haben: US-Bürger etwa ist seit der Ratifizierung des 14. Zusatzartikels zur US-Verfassung am 28. Juli 1868 jeder auf US-Staatsgebiet Geborene, egal welche Sprache seine Eltern sprechen oder welcher Herkunft sie sind.
Werte, Prinzipien, Institutionen – all das klingt nicht allzu sexy, eher zweckrational; wo bleibt das Gefühl, die Emotion? Ich kann nur mein Plädoyer wiederholen, die wenigen Elemente, die unser nüchternes Grundgesetz vorsieht, um eine gewisse Ergriffenheit hervorrufen zu können – die Fahne, die Hymne und einige Zeremonien – nicht den Falschen zu überlassen. Dafür notwendig und grundlegender jedoch ist, dass linke und liberale – namentlich junge – Skeptiker dieses Staates ihm mehr Verbundenheit entgegenbringen; nach dem Motto: Ich genieße und verteidige die Vorteile dieser Demokratie und tadle ihre Missstände bis hin zur demokratischen Bekämpfung derselben.