von Günter Hayn
Stefan Bollinger beendet sein Buch über die deutsche Novemberrevolution 1918 mit einem Appell: „Wir haben die Pflicht, es noch einmal zu versuchen.“ Wir? Wen meint er? Die „linken Kräfte“, die er gelegentlich zitiert? Die sind zerstritten wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Gott sei Dank können sie derzeit nicht aufeinander schießen lassen. Es? Die Revolution? Einen neuen deutschen Sozialismusversuch? Wie soll der aussehen? Keine der ernster zu nehmenden linken Parteien und Strömungen verfügt derzeit – bei allem Respekt vor den Leistungen einzelner Denker – über ein einigermaßen realitätstaugliches Konzept zur Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft, erst recht nicht über eine auch nur in Ansätzen erkennbare Sozialismusvision. Keine einzige verfügt über das, was man eine gesellschaftliche Mehrheit nennt.
Als die gigantische Staubwolke seines Zusammenbruches noch über dem Trümmerhaufen des realen Sozialismus schwebte, schien allen Linken klar zu sein, dass jeder neue sozialistische Anlauf ohne solche Mehrheiten in den Blutsumpf der Diktatur einer sehr kleinen Minderheit münden müsse. So viel Rosa Luxemburg hatte man offenbar fraktionsübergreifend verstanden. Ein Irrtum. Stefan Bollingers Buch ist ein Beleg dafür.
Der Autor verfolgt eine eindeutig politisch-didaktische Absicht und verbirgt sie hinter einem Diskurs über den Charakter, die Leistungen und Fehlleistungen und schlussendlich „die Lehren“ dieser einzigen deutschen Revolution im 20. Jahrhundert, die solchen Namen auch verdient. Man kann das machen. Aber der Leser riecht beizeiten die Absicht und ist verstimmt. Bollinger verzichtet bewusst auf eine Verlaufsgeschichte. Er schreibt, er wolle keinen „neuen Bilderbogen der Ereignisse“ entfalten. Schade, so etwas aus der Feder eines linken Autors ist überfällig! Wer sich in die Literatur über die Novemberrevolution einliest, wird rasch feststellen, dass die „neuen Bilderbögen“, vom Feuilleton der „Qualitätspresse“ regelmäßig bejubelt, de facto nur der alte Wein in neuen Schläuchen sind. Über die vor-1989er Befunde wird nur in Ansätzen hinausgegangen. Die Landmarken dieser Befunde werden immer noch gebildet von Sebastian Haffner („Der Verrat“), der 1969 die Mehrheits-SPD Eberts und Scheidemanns in den Orkus der Geschichte spülte, und am anderen Ende des Spektrums von Hagen Schulze (1982) und Heinrich August Winkler (1984), die von der These der Unmöglichkeit einer Revolution unter den Bedingungen eines hochentwickelten Industrielandes ausgingen – um auf dieser Basis eine Rehabilitierung der Volksbeauftragten von Groeners Gnaden vornehmen zu können. Die hätten ja nur das Machbare getan, Realpolitik eben.
Man kann sich die Mühen solcher Lektüre auch sparen und sollte direkt zu den Arbeiten der Zeitgenossen greifen.1924/25 legte Richard Müller, er war als Vorsitzender des Vollzugsrates der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte eine der wichtigsten Personen der Revolution, eine dreibändige Darstellung vor. Schon 1921 veröffentlichte Eduard Bernstein seine Revolutionsgeschichte. 1928 erschienen die Arbeiten Arthur Rosenbergs zur Geschichte der Weimarer Republik. Wenn man noch die Erinnerungen Max von Badens hinzuzieht (er hatte seinerzeit in Absprache mit Ludendorff Friedrich Ebert in den Sattel gehoben), kann man ein Bild von den langen Linien der Ereignisse gewinnen, das auch gegenüber den bisherigen „neuen Bilderbögen“ Bestand hat.
Im Kern wird man im November- und Dezembergeschehen von 1918 wenig finden, das sozialistischen Revolutionsträumen kräftiges Feuer unter die Kessel legte. Man müsste schon mit der Betriebsblindheit Karl Radeks gestraft sein, der bis 1923 immer wieder eine siegreiche deutsche Revolution ausbrechen sah und im Namen Lenins und der Kommunistischen Internationale verheerenden Einfluss auf Entscheidungen der jungen KPD ausübte. Selbst Rosa Luxemburg sah auf dem Gründungsparteitag der KPD in den Ereignissen vom 9. November „mehr Zusammenbruch des bestehenden Imperialismus als Sieg eines neuen Prinzips“. Das deckt sich mit der Einschätzung Walter Rathenaus, der die Revolution 1919 „eine Enttäuschung“ nannte, ein „Zufallsgeschenk“ und „Verzweiflungsprodukt“: „Den Generalstreik einer besiegten Armee nennen wir Revolution.“ Stefan Bollinger zitiert diese Bewertungen. Er verweist dankenswerterweise auch auf den inzwischen wohl zum zweiten Male vergessenen Rosenberg.
Einig sind sich alle diese Analysen über die Hauptursache des Ausbruchs der Revolution – den unbedingten Willen der Volksmassen, Krieg und Hunger zu beenden. Einig sind sich auch alle Analytiker, Stefan Bollinger teilt diese Einschätzung, dass mit dem Reichsrätekongress vom 16. bis zum 20. Dezember 1918 die Weichen in Richtung bürgerlich-parlamentarische Demokratie gestellt worden waren. Die Räte gaben die Macht, die sie nie richtig ausgeübt hatten, freiwillig wieder aus den Händen. Sie verspielten die einzige Chance, die der Revolution eine Entwicklung in eine andere Richtung als die von Ebert, Scheidemann und Noske gewählte hätte geben können. Ab 21. Dezember marschierte die Konterrevolution. Wenn er nicht blutige Realität gewesen wäre, hätte der Berliner Januaraufstand – in dessen Folge Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die übrigens gegen dieses abenteuerliche Projekt war, ermordet wurden – als großartige Metapher über die politischen Traumwelten der damaligen Linken erfunden werden können. Die Spartakuskämpfer verschanzten sich im Berliner Zeitungsviertel und lieferten sich einen erbitterten Kampf mit den Noske-Truppen um das Verlagsgebäude des „Vorwärts“. Sie kamen mitnichten auf die Idee, das nur wenige hundert Meter entfernte Regierungsviertel, die Schaltzentrale der Konterrevolution, zu besetzen.
Ebert und seine Leute – Gustav Noske gab unbeeindruckt von allem anderen in der gleichen Zeit den „Bluthund“ – erfüllten mittlerweile das, was Stefan Bollinger die „Forderungen der Stunde“ nennt. Sie managten den Ausstieg aus dem Krieg, wenigstens soweit die Siegermächte eigenständiges deutsches Handeln überhaupt zuließen. Sie stellten zusammen mit den Unternehmerverbänden und den Gewerkschaftsführern die Weichen zur Umstellung der Kriegs- auf die Friedenswirtschaft. Sie bemühten sich irgendwie, den wichtigsten sozialpolitischen Forderungen der Volksmassen zu entsprechen. Und die hießen nicht Sozialismus, sondern „Brot“. Was denn sonst? Liebknecht ließ sich von den Massenaufmärschen der immer selben Leute in seinen Kräfteeinschätzungen irreführen. Ebert und Scheidemann kannten bei aller Funktionärsabgehobenheit offenbar die Sorgen und Wünsche der deutschen Volksmassen besser. Stefan Bollinger kritisiert deren politischen Ansatz (konkret das Programm des Rates der Volksbeauftragten vom 12. November 1918) als Richtlinien, die eben nicht „einer dem Sozialismus verpflichteten Partei entsprochen“ hätten, die eben nicht geeignet waren, deren sozialistisches Programm zu verwirklichen. Als Analysebefund ist das richtig, als politische Kritik pure Revolutionsromantik.
Betrachtet man nur die Flugblätter, Plakate und revolutionären Reden jener Tage, so stand der Sozialismus auf der Tagesordnung. Bollinger meint nun, dass Deutschland „sozioökonomisch reif, die Arbeiterklasse zivilisiert und gut […] organisiert“ gewesen sei. Das ist ein nebulöser Befund. Folgte daraus zwangsläufig eine Weiterführung der Revolution über das am 9. November Erreichte hinaus? Die Verhältnisse, meint der Autor selbst, die waren nicht so. Richtig, Liebknecht und seine Genossen standen ziemlich allein auf weiter Flur. Das gehört zu den größten Tragödien der deutschen Geschichte, und die ist überhaupt nicht dazu angetan, als Basis für Spekulationen über künftige gesellschaftliche Umwälzungen in Deutschland zu dienen. Mit Ausnahme einer einzigen fundamentalen Erkenntnis: Jede nicht von einer Mehrheit der Bevölkerung getragene gesellschaftliche Umwälzung läuft auf bloßes Abenteurertum hinaus. Politischen Revolutionsträumern muss man, egal ob von links oder von rechts, in den Arm fallen, bevor sie die Waffen sprechen lassen können.
Nicht „wir“ haben die Pflicht, es noch einmal zu versuchen. Da schimmert die bekannte Avantgarde-Mentalität durch. Linkes Denken muss auf den Fall der Fälle vorbereitet sein. Es hat die Pflicht, gesellschaftliche Alternativen zu suchen und verständlich zu formulieren. Vielleicht sollte Stefan Bollinger doch noch einen „neuen Bilderbogen“ schreiben. Der könnte sich als nützlicher erweisen als weitere revolutionstheoretische Diskurse.
Stefan Bollinger: NOVEMBER ’18. Als die Revolution nach Deutschland kam. edition ost, Berlin 2018, 256 Seiten, 14,99 Euro.
Schlagwörter: Günter Hayn, Novemberrevolution, Sozialismusversuch, Stefan Bollinger