21. Jahrgang | Nummer 19 | 10. September 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal zwei Weltberühmtheiten mit Zigarre; einmal Kriminalkommissar Ernst Gennat, daneben Heiner Müller inmitten verstreuter Notizblätter …

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Was für eine Mischung: Unangepasst. Individualistisch, aber mit sozialem Gewissen. Hartnäckig und doch flexibel. Arbeitstier. Genussmensch, süchtig nach Kaffee, Kuchen, Zigarre, Burgunder. Eloquent und amüsant. Genialer Denker mit sensiblem Bauchgefühl. – Trifft bis auf den Burgunder zu auf Heiner Müller (Whisky), aber auch auf Ernst August Ferdinand Gennat.
Dieser aufgrund seiner Leibesfülle „der volle Ernst“ genannte Herr war seinerzeit der berühmteste Kriminalkommissar Berlins. Und schon zu Lebzeiten eine Legende, ja ein Star der Golden Twenties – als Koryphäe seines Fachs international gefragt; nicht nur von Kollegen.
Mit Chaplin vertilgte Gennat Kuchenpakete. Brecht interessierte sich für ihn, als er mit seinen 22 Lenzen aus Bayern nach Berlin kam („da ist die Kälte, friss sie“). Mark Twain beschrieb ihn „mittenmang vom Chicago Europas“; so umschrieb er die Verbrechermetropole an der Spree. Und Fritz Lang ließ sich beraten von ihm für seinen Film „M. Eine Stadt sucht einen Mörder“; der Kommissar im Krimi-Klassiker ist ein Gennat-Porträt.
Was für ein Kerl, dieser Zentner schwere Mann (Volksmund: „Buddha vom Alexanderplatz“), allein lebend mit Papagei und Haushälterin (er heiratete vor seinem frühen Tod nicht sie, sondern eine Kollegin). Aufgewachsen in Plötzensee, quasi im Knast. Der Direktor war sein Vater. Jurastudium abgebrochen „w.g.Ufl.“ (wegen Unfleißes). Doch Plutarch las er im Original. Gennats unglaubliche Beobachtungsgabe, sein phänomenales Gedächtnis und Einfühlungsvermögen, seine unermüdliche Akribie auch in scheinbar hoffnungslosen Fällen brachten E.F.A.G. alsbald an die Polizei-Spitze der Reichshauptstadt. Er, absolut integer, doch der Gesinnung nach eher Sozi (natürlich ohne Parteibuch), diente ihr unter drei Politsystemen. Und blieb dauerhaft unverzichtbar. Nicht nur aufgrund seiner sensationellen Aufklärungsquote (94 Prozent), sondern wegen seiner damals geradezu revolutionären, daraufhin klassisch gewordenen kriminaltechnischen Innovationen: Tatort- und Spurensicherung (Fingerabdrücke!), Dokumentation und Archivarbeit (Verbrecherkartei!), Fotografie und Labortechnik.
Gennat als genialer Techniker, als Methodiker und Psychologe; der Begriff „Profiling“ kam erst später. Sein „Mordauto“ machte weltweit Schlagzeilen: Ein motormäßig eigens aufgemotzter Mercedes mit Labor, Büro, Fotoausrüstung, Proviantkiste. Von Gennat stammt auch das Konzept für den Bau des kaiserlichen Polizeigefängnisses am Alexanderplatz (reichlich fünf Millionen Reichsmark). Seinen Mitarbeitern schärfte er ein: „Wer mir einen Beschuldigten anfasst, fliegt! Unsere Waffen sind Gehirn und Nerven.“
Sein Prinzip war, der „Kundschaft“ auf Augenhöhe gegenüber treten, dabei stets die sozialen Hintergründe im Auge halten. „Na, nu erzähl’n Se mal, Ihnen wird viel wohler sein, wenn Se sich ausgesprochen haben“, so begannen meist seine Verhöre. Doch der Regierungsrat konnte auch fein bürgerlich – oder ungemütlich, messerscharf.
Was für ein Charakter, was für eine starke Figur in einer dramatischen Stadt in dramatischen Zeiten – dem Umbruch zur Weltmetropole. Es wäre der Stoff für großes Theater. Immerhin gelang dem rührigen, originellen kleinen Berliner Theater im Palais unter dem Titel „Der Buddha von Berlin“ eine treffliche Skizze dieser sagenhaften Weltberühmtheit, die – kein Wunder bei Gennats Lebensführung – früh verstarb; mit 59 Jahren. Zur Beerdigung kamen mehr als 2000 Leute. (Gennats Grabstein kann noch heute besichtigt werden. Auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf.)
Das Script der Hausautorin und Spielleiterin Barbara Abend fußt auf zwei Sachbüchern von Regina Stückert aus dem Elsengoldverlag („Kommissar Gennat ermittelt. Die Erfindung der Mordinspektion“ und „Verbrechen in Berlin. 32 historische Kriminalfälle 1890-1960“).
In knapp zwei Stunden illustrieren Gabriele Streichhahn und Carl Martin Spengler lesend und spielend das Biografische im politisch-sozialen Kontext (Abend: „Jede Zeit hat ihre Kriminalfälle und alle Kriminalfälle haben ihre Zeit.“). Selbstverständlich wird die so musterhafte Ermittlungsarbeit Gennats an einigen spektakulären Mordfällen demonstriert.
Den aufschlussreichen, dabei höchst unterhaltsamen Abend gliedert die Pianistin Ute Falkenau mit Stücken von George Gershwin und Eric Satie.
Übrigens, mit seinen historischen Berlin-Krimis hat Volker Kutscher die Zeit wie auch Gennat ebenfalls wiederaufleben lassen; unter dem Titel „Babylon Berlin“ wurde gerade eine erste aufwändige Verfilmung mit Starbesetzung abgeschlossen.

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Sein strenger, kaltblütiger Glaube galt einem einzigen: dem Konflikt. Was für ein Bekenntnis! Was für eine Abkehr von allem, was eine heile Welt bedeuten könnte: „Es gibt kein Leben ohne kaputtes Leben. Wenn ich morgens Müsli esse, will ich mich eine Stunde später erschießen. Da trinke ich lieber Benzin zum Frühstück.“ – Was für ein Satz; schrecklich und schön. Müller, der Poet …
Der Dichter Durs Grünbein schrieb über ihn; Aufklärung sei diesem Mann „eine ununterbrochene Katastrophe“ und „gerechte Güterverteilung ein Streit, der auf Ausrottung hinauslaufe“. – Derartige Ansichten sollte man sich vergegenwärtigen, wenn man in Heiner Müllers verstreuten Texten zum Kapitalismus liest, die vor einigen Monaten von Helen Müller unter dem beängstigend prophetischen Titel „Für alle reicht es nicht“ bei Suhrkamp (16,50 Euro) herausgegeben wurden.
Die Sammlung blättert zielgerichtet in Müllers Essays, Reden, Interviews, seinen Stücken und Gedichten. Und umkreist sein tiefes Einverständnis mit den unlösbaren Widersprüchen des trostlosen menschheitlichen Daseins einschließlich seines dauerhaft kriegerischen Zustands. Die mit hohem Aufwand hergestellten Trostpflaster aus Moral und Idealen hält HM für absolut wirkungslos. „Du musst einverstanden sein auch mit der Grausamkeit“, schrieb er mit finsterem Blick auf die Gebrüder Kain und Abel. „Es ist sicher ein Problem, worüber man streiten kann: ob Kunst überhaupt human ist. Sie ist es nicht. Sie hat nichts damit zu tun.“
Keine unbedingt erbauliche Lektüre. Dennoch bleibt es zumutbar, sich den nach wie vor fest nistenden todernsten Dingen dieser eben nicht nur schönen Welt zuzuneigen. Sie vor allem haben mit dem Wesen unserer fragilen Existenz zu tun.
Allseits bekannt ist, dass Heiner Müller ein Meister des süffisanten Bonmots war, der abgründigen Pointe. So ist die Idee des Fachmagazins Theater der Zeit naheliegend, Heiner-Müller-Anekdoten fleißig zu sammeln und (erst jetzt) in einem Hundert-Seiten-Büchlein (10,00  Euro) zu veröffentlichen; Redaktion, Sammlung, Herausgabe: Thomas Irmer. Bis jetzt sind 87 der amüsanten, frechen, nicht zuletzt zeitgeschichtlich aufschlussreichen Dingelchen zusammengekommen. Deshalb noch eine pfiffige Idee Irmers: nämlich die Sache offen zu halten und alle Welt aufzurufen, weiteres „Material“ beizusteuern für einen – nur einen? – Folgeband. Also: Jeder, der auch nur irgendwie müllerte und diverse Sarkasmen oder Erlebnisse im Hinterkopf hat, kann da mitmachen – per Post (Winsstraße 72, 10405 Berlin) oder per E-Mail (lektorat@theaterderzeit.de).
Hier schon mal zwei Kostproben:
Eine Fernsehtalkshow. Frage: „Nach der Wende gab es doch viele Probleme. Leute verloren ihre Arbeit. Manche haben sich umgebracht…“ – HM: „Ja, aber es gab auch negative Entwicklungen.“
Lothar Trolle, dessen dramatische Arbeiten lange Zeit nur ausnahmsweise gespielt und noch seltener gedruckt wurden, erhielt von HM den Hinweis: „Nichts ist gefährlicher als der frühe Erfolg.“