von Heino Bosselmann
Der „Kampf gegen Rechts“ ist die eindrucksvollste politische Aktion der Republik. Nirgendwo außerhalb des Sports sind mehr Menschen mobil, nirgendwo gibt es diesen selbstsuggerierten unmittelbaren Konsens, nirgendwo gleichermaßen mehr didaktischen Ernst und krampfhafte Launigkeit. Die wackeren Nazi-Verhinderer sind sich vollkommen einig und verstehen sich als die Bürger-Bewegung schlechthin, stets in der Lage, sofort „die Anständigen“ zu alarmieren, einerlei ob im saturierten München oder im armen Pasewalk, unterstützt von einer unübersichtlichen Fülle an Initiativen, Schülerwettbewerben, Websites und Foren, sich politseismographisch als „Störungsmelder“ verstehend, die auch mal vorschnell denunzieren dürfen, um der vermeintlichen Gefahr zu wehren. Wenigstens an einer Stelle scheinen sich alle einig zu sein: Gegen Nazis! Gegen Rechts!
Und genau das ist das Problem: Die Positionierung „gegen Rechts“ fällt so leicht. Sie gleicht der in Ost und West während des Kalten Krieges dauernd gestellten Gewissensfrage: Bist du für den Frieden? Es gab darauf nur die eine Antwort, und die hatte hüben wie drüben kurz und undifferenziert auszufallen, sonst erschien keine weitere Verständigung mehr möglich: „Ja, natürlich!“ Nur war damit sehr wenig gesagt und noch gar nichts bewegt.
Wer „gegen Nazis“ mitmacht, hat in sehr bequemer Weise per se Recht und darf sich gar als Kämpfer, als Aktivist, sowieso als Humanist und sogar als eine Art Revolutionär und positiver Held ansehen; wer distanziert bleibt, ist verdächtig und mindestens ein Verharmloser, vielleicht schon selbst in Gefahr, am Ende gar bereits „Täter“. Das Gute an sich steht dem Bösen als solchem gegenüber, etwas, was es sonst so nur im Märchen gibt: Das Licht gegen das Dunkel, Rotkäppchen gegen den bösen Wolf, Harry Potter gegen Lord Voldemort. Slogans wie „Herz statt Hetze“ und „Wir sind mehr!“ darf man als kindlich empfinden. Solche Zuordnungen versteht jeder, das kann jeder, Irrtum von vornherein ausgeschlossen. Selbst wo gar nichts mehr los ist, im deutschen Nordosten etwa, geht sofort etwas ab, wenn „die Nazis“ kommen. Eine Handvoll davon reicht völlig aus, eigentlich schon ein einzelner. Die Pest ist in der Stadt, die braune Pest! Alle sind gefordert, wieder für weltanschaulich hygienische Zustände zu sorgen, und mindestens die Linksrockband „Feine Sahne Fischfilet“ muss sogleich aufspielen, frenetisch von jungen Punks wie reifen Bildungsbürgern bejubelt. Unsere Jungs! Gegen Rechts! Was für eine wohltuende Selbstvergewisserung.
Denn der „Nazi“, das Gegenbild, ist immer der ganz andere, jener, der so, wie er ist, vernünftigerweise doch gar nicht zu denken wäre – und gerade deswegen ein Phänomen sondergleichen, weil es ihn nun mal dennoch gibt. Diese Tatsache ist den Welterklärern selbst oft genug ein Rätsel, denn „der Nazi“ müsste in unserer Welt, die sich im Verständnis der Aufklärung immer weiter verbessert und läutert, längst zum Gutmenschen durchrepariert sein, insbesondere weil doch aus der Bewältigung der Vergangenheit die richtigen Lehren gezogen wurden.
Er allein, der „Nazi“, erweist sich der allgegenwärtigen „politischen Bildung“ gegenüber als resistent oder er ist „fehlgeleitet“; es kann sich da letztendlich nur um einen bösen Defekt handeln, an dem all die vielen Guten nicht leiden, der „Nazi“ aber in einer solchen Intensität, dass er es in seiner Verbohrtheit nicht einmal merkt! Er ist „unbelehrbar“ in einer Art und Weise, die von modernen „Antifaschisten“ nur als etwas Krankes, Abartiges, also Pathologisches, mithin Gefährliches oder gar Monströses angesehen wird, wovon Infektionsgefahr ausgeht. Man muss ihn einerseits „verhindern“; andernfalls will man ihn mit neuen Therapiemaßnahmen heilen. Er soll zurückgeholt werden von einem Standpunkt, auf dem man nicht steht, und wieder einer von uns werden. Ganz der Mythos vom verlorenen Sohn. Aussteiger sind daher gern herausgestellte Positivbeispiele.
Durchaus ergibt sich eine Art Weltanschauungs-Apartheid, die es ausschließt, „Nazis“ zur Auseinandersetzung überhaupt zuzulassen, denn das hieße, ihnen „ein Podium zu geben“ und so die Gefahr der Verführung anderer noch zu erhöhen, obwohl doch längst alle gefeit sein müssten und das Publikum gegen Rechts ohnehin nur Buhrufe ausstoßen soll. Keiner fragt den Nazi, weshalb er einer wurde, denn dafür gibt es keine Gründe, wenngleich es ansonsten für alles welche geben mag.
Einerseits verfügen die Nazibekämpfer über ein an Selbstgefälligkeit grenzendes Selbstbewusstsein, anderseits trauen sie sich außerhalb ihresgleichen nicht unmittelbar zu, im Meinungsstreit zu obsiegen, obwohl die demokratische Diskurskultur Rechte in erprobte Rituale der Rede und Gegenrede zwänge.
Da den modernen „Antifaschisten“ all jene rechts der Mitte als „Nazis“ gelten, da ferner „Nazis“ und „Rechte“ fast durchweg als Synonyme verstanden werden, respektive angenommen wird, dass „Rechte“ irgendwann wie unter evolutionärem Druck zu „Nazis“ mutieren, wird dieser Gegner als hakenkreuzgefährlich empfunden; noch gefährlicher dadurch, weil man mit gesteigertem Feingefühl nahezu überall Anzeichen einer Gefahr von rechts ausmacht oder prophylaktisch meint ausmachen zu müssen.
Die sogenannte Mitte stört, dass die Rechte jetzt parlamentarisch mitreden kann. Dies aber ist nicht nur demokratisch, sondern richtig. So kommt zur Sprache, was zur Sprache gebracht werden muss, zumal die Mitte-Parteien überwiegend Austauschbares austauschten. Die öffentlichen parlamentarischen Diskussionen und das Für und Wider in den Medien erfrischen den politischen und gedanklichen Stoffwechsel der Gesellschaft, die in einer ideellen Krise steckt: Die Wahlbeteiligung sinkt stetig, das Prinzip der Subsidiarität steht in Frage, die offiziell erwünschte Supranationalität der EU verdrängt nationale demokratische Regularien, der Bürger erkennt, dass vielfach die Macht eben nicht mehr von ihm ausgeht, weil seine Entscheidung immer weniger Wesentliches legitimieren darf.
Als die Demokratie noch als national funktionierte, war „der Nazi“ kaum Thema. Heute ist er das allererste, und zwar in Permanenz. Es ist das Zeichen einer paranoiden Gesellschaft, wenn jeder, der etwas nachdrücklich Kritisches schreibt oder spricht, sich damit der Gefahr aussetzt, als Nazi oder als dessen Helfer verschrien zu werden. Als Brandstifter, der Biedermann bedroht. Autor der Jungen Freiheit oder der Sezession zu sein reicht völlig aus, anderswo zur persona non grata zu werden.
Der gefährlichste Feind der Demokratie ist jedoch nicht der „Nazi“, sondern – wie oft in der Geschichte – die Demokratie selbst, als das schwierige Geschäft des politischen Ausgleichs von Interessen. Es fällt weit leichter, über „den Nazi“ zu reden, der, wie alle wissen sollen, die Demokratie nicht will. Da kann man im großen Konsens endlich jemanden dingfest machen und sich etwa die enervierende Diskussion darüber sparen, warum man zwar wählen, aber manch Missliebiges nicht abwählen darf. Immerhin: Mit der vielfach geschmähten AfD ist dies möglich geworden. Zeigt sich die „Konsensgesellschaft“ ihr gegenüber deswegen so intolerant, wo ansonsten Toleranz gegenüber allen und jedem gelten soll?
Auf „den Nazi“ einzudreschen erscheint einfacher und freudvoller, als eine echte Demokratie wieder „von unten auf“ zu denken, beispielsweise als Diskurs darüber, inwiefern „marktkonforme Demokratie“ mit all ihren vermeintlichen Alternativlosigkeiten eben keine lebendige Demokratie mehr ist, sondern zu einer Agentur der Wirtschafts- und Finanzwelt verkommt. Man muss gar nicht so weit ausgreifen, es reicht schon aus, verfestigte Leitbegriffe und deren Zuschreibungen sowie all die performativen Sprech- und Schreibweisen kritisch anzuschauen, und man wird von den Eliten, „Multiplikatoren“ und Bekennern als Anti-Demokrat verunglimpft, der – nicht „tolerant“, nicht „weltoffen“, nicht „bunt“ – an den Grundfesten der freiheitlichen Ordnung rührt, obwohl man, im Gegenteil, die Debatte als Herzstück des Demokratischen belebt. Das konservative und das rechte Denken gehören endlich in den Diskurs, sonst machen die Radikalen von der Straße aus das Rennen!
Es ließe sich sogar ein handliches Thesenpapier darüber entwerfen, weshalb gegenwärtig Impulse eher von rechts als von links inspirierend wären. Aber die politische Bildung ist eine strenge altlinke Gouvernante geworden, die sofort den Kopf schüttelt, vernimmt sie nur manches Reizwort.
Indem die selbsterklärten Demokraten das sklerotisch gewordene Demokratische selbst keiner Revision unterziehen, sondern es pauschal als Abstraktum gutheißen, indem sie in dieser Nachlässigkeit aber mindestens intuitiv erleben, dass Demokratie aus Veränderungen heraus, die man so nicht hätte zulassen dürfen, nicht mehr lebendig funktioniert, wenden sie sich, einen faulen Burgfrieden schließend, gegen Rechts, weil sie dort eine Gefahr zu identifizieren meinen, die handhabbar ist. Weit gefährlicher als das ist ein Kulturverlust, der darin besteht, dass mittlerweile eine zweite Generation junger Deutscher aufwächst, die weder Nachrichten hört noch Zeitungen liest und die kaum mehr verstehen dürfte, wovon im Deutschlandfunk oder in der F.A.Z. die Rede ist. Fragte man selbst die „Antifa“, was für sie „links“ ist, wüsste sie darauf nichts zu sagen außer: „Gegen rechts!“
Schlagwörter: Antifa, Demokratie, Diskurs, Heino Bosselmann, links, Nazi, rechts