von Stephan Jakubowski
Auf Facebook überschlägt sich die Bestürzung über ein Video aus Dresden, auf dem Teilnehmer einer Pegida-Veranstaltung beim Thema Seenotrettung „absaufen, absaufen“ skandieren. Der Clip stammt aus einem Beitrag der Sendung Monitor und soll darstellen, wie verroht die Debatte bereits ist.
Aber handelt es sich hier nicht in Wirklichkeit „nur“ um eine wutschäumende Widerspiegelung der tagtäglich im Mittelmeer geübten Praxis, gestaltet von den europäischen Regierungen und nicht den Einwohnern aus dem „Tal der Ahnungslosen“? Die sollen hier keineswegs in Schutz genommen werden. Doch die EU-Politik ist zwar in ihren Worten etwas zurückhaltender, in ihren Taten aber dem eigentlichen Souverän, dem Volke, weit voraus. Und das genau aus Angst vor diesem und seiner zukünftigen Wahlentscheidung, die der AfD und ihresgleichen womöglich noch mehr Stimmen beschert.
Um zu sehen, wie verroht die Debatte tatsächlich ist, sollte man aber den Gradmesser nicht unbedingt dort ansetzen, wo es als schicklich gilt, mit einem Galgen für Regierungsvertreterinnen herumzuspazieren. Bezeichnender ist die Art, wie mittlerweile in liberalen Kreisen darüber debattiert wird, ob man Seenotrettung vielleicht lieber lassen sollte. Auch in linken Kreisen findet diese „Debatte“ mehr und mehr Anklang. Einem Pro und Contra „Oder soll man es lassen?“ von Caterina Lobenstein und Mariam Lau in der Wochenzeitung Die Zeit war in der taz bereits ein Essay von Stefan Reinecke vorangegangen, in dem das Für und Wider unbegrenzter Migration erörtert wurde.
Das Mantra „Wir können ja nicht alle aufnehmen“ unterscheidet sich von der rechten Argumentation nur dadurch, dass das sprichwörtliche Boot nur fast voll ist. Da zeigt sich, wie weit die Argumentationen des rechten Randes – freilich weichgespült – über die Mitte ins linksliberale Lager eingeflossen sind. Die Kernaussage ist in der taz wie bei Mariam Lau in der Zeit die gleiche: Alle wollen her, unsere wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Infrastruktur verkraftet das nicht, und damit werden Geflüchtete zur Bedrohung des Abendlandes. In der Zeit sind Geflüchtete und deren Helfer sogar direkt verantwortlich für die Krise der italienischen Sozialdemokratie.
Der erste Fehler ist, dass die Autoren aus dem Bauch heraus argumentieren, sogenannten Migrationsbefürwortern aber gleichzeitig einen moralisierenden Dogmatismus abseits jeder Ratio und des real-politischen Horizonts unterstellen. Es mag legitim sein zu analysieren, wie Migrationsbewegungen entstehen, und pragmatisch abzuschätzen, ob und inwiefern sie zu grenzwertigen Herausforderungen für eine Gesellschaft werden, denen man schließlich mit konstruktiven Lösungen begegnen kann. Die Rhetorik von „Umvolkung“ und „Invasion“ jedoch lediglich in ein salonfähiges Gewand zu kleiden, ist und bleibt rechter Populismus.
Der zweite und wesentlich bedeutendere Fehler ist die Annahme, alle würden zu uns wollen. Da spricht der Eurozentrismus aus den Autoren. Und das ist der kleine Bruder des Rassismus, weil er davon ausgeht, dass nur Lösungen aus Europa funktionieren und alle anderen selbstverständlich eben diese Lösungen wollen und brauchen. Trotz der widrigen Umstände in afrikanischen Staaten überwiegt die (teils traditionelle) Binnenmigration. Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung bleibt selbst in Gebieten Syriens oder Iraks, die völlig zu Recht als Hölle auf Erden gelten können. Warum? Weil es ihre Heimat ist. Weil sie dort verwurzelt sind und weil es die Mehrheit der Menschen weltweit durchaus Überwindung kostet, sie zu verlassen. Auch wenn Frau Lau in besagtem Artikel gern einen klaren Schlussstrich unter die Kolonialgeschichte und daran gebundene Entwicklungen in den Ländern des globalen Südens gezogen sehen möchte, tragen dortige Bevölkerungen oft noch die Lasten des kolonialen Erbes in Gestalt ihrer wirtschaftlichen Lage und der politischen Despotie. Die Entwicklungshilfepolitik der EU und Deutschlands ist da allzu häufig keine Erleichterung, da sie mehr und mehr an die Grenzsicherung zur Eindämmung von Migrationsbewegungen gen Europa gebunden ist. So wie die Schließung von Fluchtrouten wie der „Balkanroute“ die Wahrscheinlichkeit des Ertrinkens im Mittelmeer deutlich vergrößert hat, sterben die Menschen nun in den Wüsten Afrikas. Um die „Sicherung“ der Festung Europa zu garantieren, werden selbst verbrecherische Regime rehabilitiert und aufgewertet. Daran verdient auch die (europäische) „Sicherheitsindustrie“ ausgezeichnet. Sie boomt dank der Bedingungen für Entwicklungshilfe und es werden Waffen, Technologien und militärisch-polizeiliche Strategien geliefert. Eben jene kapitalistische Ordnung, die mit ihrer neokolonialen Ausbeutung und einer geradezu obszönen Kapitalakkumulation in den Ländern des globalen Nordens zur Mutter aller Fluchtursachen geworden ist, geht mit satten Gewinnen aus der Krise hervor. Während ungezählte Menschen sterben!
Hier schließt sich der Kreis zur Debatte um die Legitimität (privater) Seenotrettung. Diese Debatte geht am eigentlichen Problem weit vorbei und dient lediglich einer Stimmungsmache. Die Rettung von Menschenleben ist und bleibt nicht verhandelbar! Aber selbstverständlich kann Seenotrettung nur ein Notpflaster sein. Es braucht legale Wege der Migration und vor allem braucht es eine grundlegende Änderung des Systems. Schließt man eine Milliarde Menschen ohne soziales Netz von der Verwertungslogik der kapitalistischen Produktion aus, werden diese Menschen alles für die Chance auf ein Leben tun. Und wer kann es ihnen verübeln?
Schlagwörter: Entwicklungshilfe, Fluchtursachen, Migration, Seenotrettung, Stephan Jakubowski