von Wolfgang Brauer
An seinem Jubeltag wird er das Schicksal aller großen Autoren teilen, die irgendwann einmal mit einer später gestürzten Obrigkeit in Konflikt gerieten und sie überlebten: Lobeshymnen zuhauf, die Feuilletonseiten werden mit mindestens halbseitigen Lebensläufen aufwarten, der Kulturkanal des Fernsehens wird ein Portrait ausstrahlen. Ich hoffe nur, die Regierungen aus Berlin und München oder gar aus Wien ersparen ihm die Peinlichkeit einer Ordensverleihung. Die meisten Lober über den grünen Klee werden kaum ein Gedicht von ihm gelesen haben.
Am 16. August wird der Dichter Reiner Kunze 85 Jahre alt.
„Verlangt vom dichter nicht, / was einzig das gedicht kann leisten // Verlangt vom dichter das gedicht […]“ – 2013 wehrte er sich mit diesen Versen wie eigentlich sein ganzes Leben lang gegen die Indienstnahme der Dichtung durch die wechselnden Herren wechselnder Zeiten. Jedes wahre Gedicht – hier ist nicht die Rede von schlichter Reimeschmiederei – ist eine eigene Welt, in die einzutauchen nicht jedem zu jeder Zeit vergönnt ist. Gedichte verweigern sich auch einem „Schreibplan“. Sie brauchen Zeit, sie reifen langsam und scheinen plötzlich da zu sein und verschwinden wieder, weil ein einziges Wort nicht zu stimmen scheint. Kunze hat das trefflich auf den Punkt gebracht: „Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt, als daß es fehlt“ (die stunde mit dir selbst, 2014). Steht dieses Wort, das lange nicht Gefundene, plötzlich im bis dato holprigen Vers, strahlt das Gedicht auf eine sehr eigene Weise und widersetzt sich jedem Versuch einer neuerlichen Änderung. Zensoren haben das nie begriffen. Zensoren werden das nie begreifen. Mit jedem gelungenen Gedicht fügt der Dichter der Welt Welt hinzu. Es stehe nur die Frage „Und was an welt?“, meint Reiner Kunze in „wer bist du, dichter“ (2009/2012).
Die zitierten Verse stammen alle aus dem Band „die stunde mit dir selbst“, der jetzt bei S. Fischer erschien. Kunze versucht, in ihm eine Lebens-, nein eine Dichtensbilanz zu ziehen. Wohl wissend, dass dies ein vergebliches Unterfangen ist. Dennoch ist es ein Buch des Abschieds. Der skeptisch-elegische Grundton, der vielen seiner Texte eigen ist – Liebe und Leid, das unzertrennliche Geschwisterpaar, von dem schon Wolfram sang, die völlig aussichtslose Hoffnung … – dominiert auch hier. Reiner Kunze, den bösartiger Unverstand 1977 aus seiner Heimat trieb, neun Jahre zuvor zerwalzten sowjetische Panzerketten die letzte Hoffnung auf einen menschlichen Sozialismus, hielt lange aus in einem Land, dessen hilfswillige Knechte anderer Herren ihm an den Kragen wollten. Aus seinem Prosaband „Die wunderbaren Jahre“ (1976) lese man die beiden „Café Slavia“ überschriebenen Abschnitte aus den Jahren 1968 und 1975. Keinem ist mehr zu helfen, dem da nicht das Herz zu zerreißen droht. Die Zensoren zerrissen sich die Mäuler über die Schulpassagen jenes Büchleins. Ihre westlichen Pendants bejubelten sie. Beide irrten! Lesen Sie „Café Slavia“!
Jetzt artikuliert Reiner Kunze wieder Furcht, er erhält anonyme Drohbriefe: „Nicht meinetwegen habe ich angst […] / Euretwegen habe ich angst, die ihr ihnen zur macht verholfen / und angst haben werdet“ (euretwegen, 2015). Vor den Zauberlehrlingen, den Fanatikern, der Masse, die zunehmend hirnlos scheint, warnt sein Gedicht „daseinsfrist“ (2013): „Die erlösung des planeten von der menschheit / ist der menschheit mitgegeben in den genen“. Kunze widmete den Text dem Freund Günter Kunert. Manche werden meinen, da spräche ein Fatalist, ein mit dem Leben fast abgeschlossen habender Griesgram. Mitnichten. Den Band „die stunde mit dir selbst“ schließt ein Abschiedsgedicht. Eines über den Tod: „fern kann er nicht mehr sein“ (2009/2012). Es endet mit einer Aufforderung an die Weiterlebenden: „Verneigt vor alten bäumen euch, / und grüßt mir alles schöne.“ Es gehört zu den wenigen seiner Gedichte, die er mit einem Punkt endet.
Ein anderes gehört unabdingbar dazu: „Puschkins Michailowskoje“. Der Dichter formuliert darin einen Selbstauftrag. Reiner Kunze besuchte den heiligen Ort der russischen Poesie im Jahre 1968 und erfuhr, dass die deutsch-sowjetische Front seinerzeit mitten durch den Garten ging. Seinem mit Betroffenheit formulierten Schluss, „Wer immer einfallen wird / in die offenen Gärten der dichter“ werde ihn zum Gegner haben, folgte er nicht nur 1968, sondern sein Leben lang.
Am 16. August 2018 wird der Dichter Reiner Kunze 85 Jahre alt. Nehmen Sie sich einige Minuten für eines seiner Gedichte. Schweigend. „Wir Dichter wollen weniger erhoben / Und dafür mehr gelesen sein“, bat schon Lessing.
Schlagwörter: Lyrik, Reiner Kunze, Wolfgang Brauer