21. Jahrgang | Nummer 18 | 27. August 2018

Enge

von Heino Bosselmann

Ein Symptom von Krisen- und Endzeiten ist die Enge. Kein Platz mehr, keine Luft nach oben – sowohl physisch wie psychisch wie im Gemeinschaftlichen, also Politischen. Das Boot ist voll! Alle reden von Toleranz: Weil die Toleranzen schwinden. Deshalb redet man auch von Empathie: Weil die vermisst wird. Was nicht in Excel passt, das verliert seine Berechtigung, so wie Excel überhaupt für die Herrschaft des Rationalen steht, unter der die Tabellen von selbst zu rechnen beginnen. Alles ist der Maßgabe der Rentabilität unterworfen und soll sich in immer engere Spalten pressen; das Leben soll Algorithmen gehorchen, verdatet und durchkatastert, um intensiver verwertet zu werden.
Der Expressionismus, Ausdruck einer früheren dramatischen Niedergangs- und Aufbruchsperiode, war fasziniert vom Moloch Stadt, von der Maschinerie, die sich den Menschen einzurichten begann, von der Vermassung kraft Industrie: Metropolis… Die Verkehrsdichte nimmt zu, die Achslasten wiegen schwerer. Deswegen die Staus, deswegen brechen neuerdings die Brücken. Produktion und Konsumtion, beides XXXL und hocheffizient, steigern den Druck, unter dem die Infrastruktur ächzt. Das Digitale überholt das Analoge. Es lässt sich zwar alles betriebs- und volkswirtschaftlich von knallharten Controllern durchrechnen, aber im Leben selbst knallt und knirscht und birst es dann. Über die eingestürzte Morandi-Brücke von Genua donnerten täglich 25.000 Lastwagen. Alles so marode, heißt es plötzlich. Kaum mehr Platz, Entschleunigung wohl gewünscht, aber nicht mehr als die Romantik randständiger Alternativer.
Die großen Alphatiere beschleunigen, anstatt herunterzuschalten. Wachsen oder weichen! Resilienz gilt daher als wichtige Eigenschaft der Aufsteiger, die Befähigung, den Druck auf engstem Raum aushalten zu können. Stress ist kein Modewort mehr, sondern der Standardzustand. Stress hat jeder, Angst vorm Zurückbleiben, dem Scheitern, dem Selektionsvorgang der Leistungsgesellschaft. Was zählt, ist das Vermögen, die höheren Schlag- und Drehzahlen mitgehen zu können. Survival of the fittest einerseits, „The biggest loser“ andererseits. Fitness, Sex, Photoshop-Ästhetik der Selfie-Kultur, alles wird forciert. Noch jeder Urlaub ein Event. Hyper, hyper! Selbst Yoga avancierte mittlerweile ganz widersinnig zum Leistungs- und Massensport der Aufgeregten, während die Downshifting-Ratgeber ihre Lebenstipps für die Ausgebrannten beim Buddhismus und der antiken Stoa abschreiben.
Folgerichtig blieb Burn-out längst nicht mehr hypertonisch pumpenden Managern vorbehalten, nein, schon ein Großteil der Abiturienten gilt unterm Diktat der Klausurpläne als überfordert, selbst Grundschüler werden pharmazeutisch „eingestellt“, weil sie entweder hyperkinetisch und aufmerksamkeitsdefizitär überdrehen oder infolge von Ängsten und Misserfolgen depressiv werden. Bildung gibt sich einerseits so kindgerecht wie nie, dennoch sind andererseits die kinderpsychiatrischen Stationen überfüllt. Und wer aus dem großen Reproduktionsprozess weitgehend ausgeschlossen ist als Empfänger von „Transferleistungen“ (ja, Hauptsache Leistungen!), den stressen das Nichtstun, die Armut oder die Spielekonsole und das Gewimmel und Gefunkel kunterbunter Apps. Reizüberflutung hinterlässt letztlich innere Leere.
Überall ist’s eng geworden, selbst im Sahel. Explodierende Geburtenraten mitten im dürren Elend. Deswegen machen sich dort Tausende auf den Weg, um in Europa mit zu den „Playern“ zu gehören, sich also „als Fachkräfte“ im Niedriglohnsektor ein Stück nach oben durchzuboxen. Was wiederum die Konkurrenz der einheimischen Mindestlöhner und Aufstocker in der Dienstleistungs- und Service-Gesellschaft anstachelt.
Die Gesellschaft tröstet sich mit Moralisierung und Verrechtlichung. Was für eine Fülle an Verordnungen und Vorschriften zu unserem Schutz vor Verschleiß. Die Börse rechnet im Zehntelsekundentakt, aber in der Gesellschaft soll’s lauschig gerecht zugehen. Zwar wird wie eh und je knallhart ausgebeutet und über den Tisch gezogen, die Dividende stimmt, aber neuerdings hat man unter den „Allgemeinen Geschäftsbedingungen“ und den „Datenschutzvereinbarungen“ zwei Häkchen insbesondere dafür gesetzt, dass man das genau so will. Und wenn man ausgenommen wird, so geschieht das ganz im Rahmen dieses Kleingedruckten, das man ohnehin nicht liest, weil man das Prinzip sattsam aus der Erfahrung kennt: Druck, Stress und Enge werden forciert, einerlei, was man eingangs so bestätigte und womit man vermeintlich einverstanden war.
Wer dennoch auf der Strecke bleibt, und das sind statistisch immer mehr Abgehängte, der soll getröstet werden: Inklusion! Die große Gerechtigkeit auf einer Insel der Seligen inmitten der Leistungsgesellschaft, das Gärtlein, in dem sich unsere Förderfälle gepflegt finden, seitdem es Sorgenkinder schon lange nicht mehr geben darf. Jeder ist so wertvoll, dass er irgendwie doch verwertet und eingepreist werden muss.
Selbst sprachlich wird’s eng. Seien Sie da bloß korrekt! Mit Worten nämlich ist in diesen nervösen Zeiten höchste Sensibilität geboten, sonst droht das Ausschlussverfahren. Also die Gendersternchen nicht vergessen! Keine „Negerküsse“ verteilen! Vorsicht mit Komplimenten, Sie Sexist! Und wenn einer im Team sich wirklich mal saublöd anstellt, dann sprechen Sie dessen „Förderbedarf“ mal besser so nicht explizit und diskriminierend aus! Gerechte Sprache für alle, einfache Sprache für unsere limitierten Mitbürger. Gerechtigkeit einfach dekretieren! Und so das wohlige Empfinden erzeugen, dass es ja immerhin so sein könnte: gerecht, tolerant, empathisch. Ist solch wundersamer Frieden sprachlich erst suggeriert, dann ist er ja doch schon in der Welt, mindestens im Bewusstseinsraum, als selbsterfüllende Prophezeiung.
Es entwickelt sich wie von selbst eine Zensur, die nicht mal mehr des Zensors bedarf. Wenn – mit Wittgenstein – die Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt sind, dann kann man das gegenwärtig durchaus im Sinne politischer Engführungen verstehen. Die Rechte reüssiert, weil sie die Mitte mit dem Bruch enger Sprachregelungen provoziert, während die Mitte selbst ihrer eigenen didaktischen Verphrasung längst nicht mehr vertraut. Freche, pointierte Schreiber wie Broder und Klonovsky führen das dem Publikum vor. Die bezeichnende Wende von Kritik und Satire: Sie kommt neuerdings von rechts. Während einstige linke Möchtegern-Revolutionäre als die neuen Spießer karikiert werden.
Werden die konservative Rechte oder die neuen Europakritiker und Nationalisten immer heftiger als Nazis und Faschisten geziehen, reagieren sie, indem sie sich diese Vorwürfe frech ans Revers heften oder es mindestens mit Gottfried Benn halten: „Über mich können Sie schreiben, dass ich Kommandant von Dachau war oder mit Stubenfliegen Geschlechtsverkehr ausübe, von mir werden Sie keine Entgegnung vernehmen.“ So bildet sich eine dem „linksmoralischen“ Mainstream entgegenstehende Subkultur, die der Mitte gefährlicher wird, als sie es je annehmen konnte. Sie sollte sich konstruktiv mit den moderaten konservativen Kräften ins Gespräch bringen, um die Radikalen zu verhindern.
Eine Gesellschaft kann an ihren Sprachregelungen ebenso ersticken wie an ideologischen Idiosynkrasien kranken. Die DDR jedenfalls ging insbesondere an ihren lexikologisch allzu eng gefassten Lebenslügen zugrunde. Alle Politik ist letztlich Streit ums Semantische.
Einen Ausdruck für die Erlösung aus der gedanklichen Erstarrung findet in Andersens Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ das unverstellt betrachtende Kind, das ausspricht, was längst doch alle wissen: Dass der Kaiser nun mal sichtlich nackt ist. Aber Befreiung? Was wir auch ändern mögen, die Excel-Tabellen rechnen weiter, und die SUV-Bourgeoisie ist im Auto-Land mit Kraftwagen unterwegs, für deren Preis wir Kleinverdiener uns Häuschen in Ortsrandlage kaufen würden. Echten Widerstand gibt es nicht über Parteibekenntnisse, sondern nur individuell. Umkehr ist meistens Abkehr.