von Bernhard Mankwald
Mit großem Vergnügen lese ich auf diesen Seiten von Zeit zu Zeit, welche Strapazen Männer in meinem Alter auf sich nehmen, um an einem Festival teilzunehmen – und welche musikalischen Genüsse sie für ihre Mühen entschädigen. Ich dagegen habe oft ähnliche Anstrengungen unternommen, um einer solchen Veranstaltung zu entrinnen, die ganz ungebeten seit mehr als dreißig Jahren zu uns in die Innenstadt kommt und unter anderem direkt vor meiner Haustür stattfindet – vier Tage lang.
In den ersten Jahren war es tatsächlich ein Graus: Mal verrichteten Lautsprecher in unmittelbarer Nähe ihre Arbeit derart effizient, dass die Ladenbesitzer um ihre Fensterscheiben fürchten mussten, mal sah der Hauseingang aus, als hätte man dort jemand abgestochen – ein Getränkefabrikant ließ freigiebig eine orangefarbene Plörre verteilen, deren Geschmack offenbar viele potentielle Konsumenten dazu verleitete, sie als Trankopfer darzubringen. Und die Bühnen vor und hinter dem Haus wurden grundsätzlich gleichzeitig bespielt; der entstehende Klangbrei war als Musik nicht einmal mehr zu identifizieren.
In diesem Jahr hatte ich den Termin – 19. bis 22. Juli – längst vorgemerkt; aber mein Budget reichte beim besten Willen nicht für irgendwelche Eskapaden. So fügte ich mich in mein Los, das dann wesentlich angenehmer wurde als befürchtet. Der Trend der letzten Jahre setzte sich fort: Die lautesten Marktschreier sind von der Szene verschwunden, die Bühnen befinden sich in angemessener Entfernung und die Tontechniker haben geeignete Mittel gefunden, das wirklich interessierte Publikum hinlänglich laut zu beschallen, ohne gleich das gesamte Stadtviertel in Vibrationen zu versetzen. Die einzige Bühne in meiner Nähe konnte ich zwar immer noch nicht ignorieren; bei der jetzigen Lautstärke blieb aber noch genug Konzentration für ein recht anspruchsvolles Buch übrig. Ausgesprochen störende Auftritte gab es diesmal nicht – auch wenn viele Bands den Kontakt zum Publikum immer noch auf die Weise suchen, dass jedes dritte Wort in ihren Ansagen und Texten „Bochum“ lautet.
Bemerkenswert war die allgemein friedliche Atmosphäre; an einem „normalen“ Wochenende gibt es mehr trunkenes Gegröle. Zur relativen Ruhe trug sicher auch das allgemeine Verbot von Glasflaschen auf dem Gelände bei. Und die einzige notwendige Beschwerde – über brutal laute Musik aus einer benachbarten Bar – konnte ich nachts um zwei gleich um die Ecke bei der mobilen Polizeiwache loswerden.
Auf diese Weise glich mein diesjähriger „Festivalbesuch“ dem Versuch, sich angesichts eines überreichlich bestückten Büffets nicht den Magen zu verderben. Ich hörte, was auf der Bühne geschah – und hatte jederzeit die Möglichkeit, auf die Straße zu gehen, wenn ich es auch sehen wollte.
Meist beschränkte sich mein Konsum auf solche Appetithäppchen; die Ausnahme bildete ein Duo namens „Prada Meinhoff“. Das ist eine Provokation: Der eine Name steht in meiner Vorstellung für modischen Firlefanz, der andere für die Neigung vieler Intellektueller, in ihrem messianischen Streben sich und anderen zu schaden. Diese Zeiten waren ja nicht lustig. Ich erinnere mich aus der Ära der Großfahndungen um das Jahr 1977 an eine nächtliche Vollsperrung der Duisburger Stadtautobahn – und nervöse Polizisten mit Maschinenpistolen sind kein amüsanter Anblick.
Andererseits war eine solche Provokation offenbar nötig, um mein Interesse zu wecken; für den Rest sorgte das Geschehen auf der Bühne. Da war zunächst der merkwürdige Anblick eines Bassisten, der anscheinend seinem Instrument ein Gitarrensolo entlockte. Auch Schlagzeug und synthetische Klangquellen waren zu hören, aber nicht zu sehen. Was spielte also der Bassist selbst, was überließ er programmierbaren Instrumenten und was kam aus der Konserve? Auch war kaum sichtbar, wie die Akteure diesen Ablauf steuerten – und dabei musste der Bassist auch noch alleine die ganze Laufarbeit verrichten, die bei so einem Rock-Event offenbar obligatorisch ist.
Garantiert nicht aus der Konserve kam dagegen die Sängerin, die in durchaus züchtiger Gewandung einige gekonnt laszive Posen zeigte und im Übrigen die Gabe an den Tag legte, das Publikum in ihre Selbstgespräche einzubeziehen. – Von den musikalischen und literarischen Inhalten blieb während dieser Betrachtungen nicht viel in meinem Gedächtnis haften; ein langes letztes Stück jedoch verband offenbar eigene Passagen mit der „Resolution“ von Brecht und Eisler: „In Erwägung unsrer Schwäche machtet Ihr Gesetze, die uns knechten solln…“ Das war schon sehr bewegend. Im Anschluss war die Sängerin sichtlich verblüfft darüber, dass die 45 Minuten, die der Gruppe zustanden, schon um waren – aber so ist das nun mal bei „Bochum Total“.
Andere Gruppen spielten Punk, Ska, New Wave – es war wie in meinen jungen Jahren. Beim Gang durch die Innenstadt sann ich darüber nach, ob ich der Zeit nun zwanzig Jahre hinterherhinke oder vielleicht eher zwanzig Jahre voraus bin – und ob sich das überhaupt auseinanderhalten lässt, da manche Phänomene, wie etwa die Moden, anscheinend zyklisch verlaufen. Auf den Punkt brachte diese Zweifel ein einsamer Straßenmusiker. Er interpretierte, begleitet nur von einem winzigen Beckenpaar mit Fußmaschine, Trompete und einem „Piano“ von drei oder vier Oktaven, ein Stück einer Gruppe aus Chicago, die für ihren ausgesprochen fetten Sound bekannt war: „Does anybody really know what time it is?“
Schlagwörter: Bernhard Mankwald, Bochum, Musikfestival