von Eckhard Mieder
Die Romanfigur Niza („Geboren wurde ich am 8. November 1973, in einer Dorfklinik, nicht weiter erwähnenswert, in der Nähe von Tbilissi, Georgien.“) schreibt für ihre Nichte Brilka auf, was sie über ihre gemeinsame Familie weiß, vermutet, spekuliert, recherchiert hat. In diesem 1300-Seiten-Brief der Autorin Nino Haratischwili (1983 geboren) entfaltet und verzweigt sich ein Panorama des zwanzigsten Jahrhunderts: seiner Schokoladenseiten (im wörtlichen Sinne: Nizas Urgroßvater ist Schokoladenfabrikant und ein Magier in seiner Confiserie) und seiner Schreckenszeiten (Christine, eine der schönen Frauen des Romans, gerät in die erotische Gewalt des Kleinen Großen Mannes Berija, wie die gesamte Familie von Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Privilegien durchgerüttelt wird; wie jeder Mensch in ihrem Umfeld von Luxus, Gulag, Zweitem Weltkrieg, Ideologie, Disziplin, Dissidententum kontaminiert wird).
Das Buch ist ein Bilder-Werk, das um mich zu kreisen beginnt, nein, ich drehe mich um mich selber inmitten eines „Bauernkriegspanaromas“, das ein georgisches, sowjetisches und nachsowjetisches Bürgerkriegspanorama ist. Und immer, wenn ich anhalten und aussteigen und hoffen möchte, dass irgendein Schicksal sich gütig gestalte (kann denn niemand das Karussell der Grausamkeit im Namen der Ismen und Menschheitsbeglückung abstellen?), werde ich wieder hineingestoßen in den Barbaren-Wettbewerb des vorigen Jahrhunderts. Gnadenlos. Und ich weiß nicht sicher, ob Massaker, Massenmorde, Krieg nicht augenblicklich und in meiner Straße wieder anfangen können. Gnadenlos.
Oder die Zukunft endet wie das Buch endet: Niza sucht Brilka auf einer Demonstration, die Gewalt und Chaos in sich trägt, entdeckt sie in der Menschenmenge auf dem Rustaveli-Boulevard in Tbilissi … „Es fehlten nur noch ein paar Meter, ein paar Minuten, was machte das schon, was waren sie noch, im Hinblick darauf, dass wir zusammen ein ganzes Jahrhundert durchquert hatten? […] Nur noch ein paar Augenblicke, und wir finden einander.“ Des Buches letzte Sätze; auf der nächsten Seite steht „Buch 8. Brilka“, und das beginnt mit einer weißen Seite, dann: Finito, Neuanfang, Hoffnung, Tod oder Weiterleben? Fast finden Tante und Nichte zueinander. Aber da liegen noch immer Gewalt und Chaos in der Luft. Wie gehabt, wiederholbar, fatal. Gnadenlos. Dass ein Jahrhundert aufhört und ein neues Jahrhundert beginnt, ist lediglich eine Ticke-Tacke-Zeitansage.
Ich bin ein misstrauischer, doch dankbarer Leser. Ich kann lachen, wenn ein Hundertjähriger aus dem Fenster und durch die Weltgeschichte springt. Ich lebe durchaus mit im Turm über Dresden oder auf der Insel Hiddensee, kenne die Zeiten des abnehmenden Lichts und ich wünschte mir auch und schon länger eine Ruhe ab jetzt. Ich verstehe, dass Geschichten gern gedruckt und gelesen werden, die das Innenleben von (oft privilegierten oder besser noch Nomenklatura-) Familien mehr oder minder fabulös-dokumentarisch mit Zeitereignissen hinter dem Eisernen Vorhang oder in den Jahrzehnten davor verknüpfen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass im Buch-Geschäft mit dem Schaudern und Gruseln derjenigen Feingeister gerechnet wird, die schon gern mal erfahren oder wenigstens lesen wollen, wie das Leben und die seltsamen Gebräuche der Menschen im real existierenden Bolschewismus Schritt für Schritt dem Untergang entgegen gingen.
Ich misstraue diesen Geschichten, ich lese sie eigentlich nicht gern, ich bin einer derjenigen, die „die Peristaltik einer gescheiterten Weltrevolution am Leibe gespürt haben“ (Karl Mickel). Geboren im Jahr, als Stalin starb. Mittendrin im Kladderadatsch, zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hineingeboren, aufgezogen, glaubend, abtrünnig, kein Grenzgänger, ein eigenes feines, feiges, zerbrechliches Leben. Als ich Nino Haratischwilis Roman – empfohlen von Freunden – zuklappte, schlug mir das Herz zum Halse und ich legte ein Blutdruck-Messgerät an. Bizarr war, dass es 106:63 anzeigte:
Mich regt nichts auf. Die Schönheit nicht
Der Frauen, Berlin nicht, mag es schrillen,
Brüllen, Vorsichhinchillen. Mein Blut, mein Herz,
Ein Schlagen nach innen, eine Wand, jenseits
Das Blut aus dem letzten Jahrhundert fließt
Und aus denen davor; ein unfassbares Maß an Gleichheit
Und an Grauen, die Raben fliegen über mir
Mit ihrem Gedächtnis seit Brest-Litowsk.
Ich wohne diesseits der Mauer. Ich bin
Die Maus im Speck. Die Doktoren der Medizin
Erklären mich von Mal zu Mal für gesund.
Mich haben die Gerüche verlassen: die nach
Dem Bier und der Bockwurst in der Mitropa, die
Nach den wollenen Schlüpfern, die nach dem
Schmelzenden Eis in meiner Kinder-Hand, und die
Nach dem Leim an den Litfaß-Säulen.
Mich regt nichts auf. Das Blut fließt
Durch meine Adern; seit Jahrhunderten fließt
Das Blut. Keine Windel, kein Verband, kein
Zerrissenes Hemd stoppt den Fluss. Nur manchmal
Erinnere ich mich an mein Leben am Rande
Des Spinnennetzes, des mörderischen; den Schrei
Des Opfers hörte ich nicht, nur ein leichte Beben
Fuhr mir durch die Fußsohlen bis kurz vors Herz.
Es ist ein ferner Schmerz, der mich durchfuhr. Ein Aufbruch: nicht ins Neue, sondern ins Vergangene, ins Verkommene. Es ist ein Schmerz, den ich zähmte; oder es ist ein Schmerz, den ich geheim hielt, weil ich nicht glaubte, jemand anderer teilte ihn mit mir. Es ist auch ein Phantomschmerz: Da gab und gibt es ein Leiden und ein Leben und Tode – in unfassbarem Ausmaß. Genauso unfassbar wie das Überleben. Mich regt nichts (mehr) auf; die Familien-Saga der Nino Haratischwili wühlte mich auf.
Nino Haratischwili: Das Achte Leben (Für Brilka). Frankfurter Verlagsanstalt, 2014, 1275 Seiten, 34,00 Euro.
Schlagwörter: Eckhard Mieder, Georgien, Literatur, Nino Haratischwili