von Lutz Unterseher
Ein 1966 bei Rowohlt erschienenes Büchlein mit einer Auswahl der wichtigsten militärischen Schriften Mao Tse-tungs trägt den Titel „Theorie des Guerillakrieges“. Die zuvor publizierte englischsprachige Fassung begnügte sich mit der sachlicheren Betitelung „Selected Military Writings“.
Es ist problematisch, Mao als den Theoretiker des Guerillakrieges zu verklären. Der Krieg, den er geführt hat, ist mit diesem Begriff nicht angemessen zu diskutieren. Sicherlich, er gebraucht das chinesische Äquivalent dieses Terms sehr häufig, doch spricht er lieber vom revolutionären Krieg. Damit ist ein Dualismus mit asymmetrischen Zügen bezeichnet: Auf der einen Seite sieht er ein dezentrales System von Guerillastützpunkten, welche sich im Rahmen von ländlichen Selbstverwaltungsgebieten gebildet haben, die vom Geist der Agrarrevolution inspiriert sind und die sich der Herrschaft der Regierungstruppen (der Guomindang unter Tschiang Kai-schek) sowie – später – der japanischen Okkupanten zumindest zeitweise weitgehend oder ganz entziehen können.
Diese Guerilla kämpft ortsgebunden und reagiert auf Eindringlinge mit Hinterhalten und Überfällen. Mao ordnet sie dennoch nicht ausschließlich der taktischen Ebene zu.
Bei einem langandauernden Kampf der Revolutionäre gegen moderne Truppen, den er im Falle Chinas mit seinen zum Teil noch archaischen Strukturen für unausweichlich hielt, habe die Guerilla auch strategische Bedeutung: nämlich im Sinne einer schrittweisen Auszehrung der gegnerischen Kräfte im Gesamtrahmen der Kampfhandlungen.
Auf der anderen Seite steht für ihn die reguläre Truppe, die Rote Volksbefreiungsarmee. Sie kontrolliert die feindfreien Gebiete im kommunistischen Sinne und nutzt diese als Operationsbasen für den Bewegungskrieg. Der findet – in Reaktion auf Angriffe – innerhalb dieser Gebiete und bei Erstarken der eigenen Kräfte außerhalb statt.
Die reguläre Truppe ist uniformiert, infanteristisch geprägt sowie auf konventionelle Weise hierarchisch gegliedert: in Feldarmeen, Korps, Divisionen und so weiter. Die Ausrüstung erscheint in genereller Tendenz leicht, umfasst aber auch zahlreiche schwere Maschinengewehre und sogar eine – eher kleine – Artilleriekomponente.
Die Kommunikation in der Hierarchie erfolgt über Feldtelefon und Funk. Die Armee hat sogar Spezialisten für Funkaufklärung. Im Übrigen gibt es Felddruckereien.
Die Truppe rekrutiert sich aus den „klassenbewussten“ Kräften des ganzen Landes, besonders aber aus denen in den feindfreien Gebieten. In dem Maße, in dem sich aus der Defensive heraus ein Bewegungskrieg mit offensiven Zügen entwickelt, kann sie Teile der Guerillakomponente entsprechend anleiten und in die eigenen Operationen integrieren.
Die reguläre Truppe ist der Guerilla eindeutig übergeordnet. Ihre Kommandeure haben vor Ort das Sagen. Sie bestimmen die Schwerpunkte der Nadelstichoperationen, um daraus für die eigenen Aktivitäten Nutzen zu ziehen.
Die Truppe darf sich auf keinen Fall vom „Guerillatum“ infizieren lassen, womit wohl die Zurückweisung von zu viel Initiative und wahrscheinlich auch politisch zu originellen Meinungen impliziert ist. Man muss nämlich „[…] für eine autoritative Disziplin in der Armee eintreten und (sich) einer falschen sektiererischen Politik einzelner Kader widersetzen“.
Gleichwohl müssen die Soldaten fähig sein, Operationen mit „Guerillacharakter“ durchzuführen. Was hat das zu bedeuten?
Intendiert ist damit eine anspruchsvolle Multifunktionalität. Zwar erscheint die Armee so strukturiert, dass sie, wenn es darauf ankommt, durchaus Konfrontationen auf Großverbands- oder Verbandsebene bestehen kann, doch muss sie zugleich in der Lage sein, auch selbständige Einheiten oder Teileinheiten gleichsam auszuscheiden, die für den Kleinkrieg geeignet sind.
Dadurch, dass – bei genereller Anbindung an die Armeeführung – auch eine Eignung für den Kleinkrieg besteht, wird die Chance sehr erhöht, die Aktionen der Guerillakämpfer in der Verteidigung ihrer Basen steuern zu können.
All dies fand vor Ort einen interessierten und fachkundigen Beobachter. Otto Braun war ein deutscher Kommunist und wurde von der Komintern nach China entsandt, um die Unternehmungen der dortigen Revolutionäre zu unterstützen. Während seines Aufenthaltes von 1932 bis 1939 gehörte er der Führung der Volksbefreiungsarmee an und hatte den Rang eines Generals. In seinen späteren Jahren diente er dem Politbüro der SED beziehungsweise der Regierung der DDR als Berater.
Aus seinen 1973 im Dietz-Verlag erschienenen „Chinesischen Aufzeichnungen“ ergibt sich ein eindrucksvolles Bild des problematischen Verhältnisses zwischen Guerilla, Braun gebraucht den Begriff „Partisanen“, und regulärer Roter Armee.
So lässt sich etwa erkennen, dass es angesichts mit überwältigendem Potential geführter Einkreisungsoperationen der Guomindang der Roten Armee in wesentlichen Fällen nicht gelang, die örtlichen Kader und Kämpfer in ausreichendem Maße zu evakuieren.
Die Geschichte des Ende 1934 beginnenden „Langen Marsches“, der strategischen Absetzbewegung der Roten Armee nach Nordwesten, ist auch eine Tragödie der zurückgelassenen, den Rückzug deckenden und gleichsam als „Kanonenfutter“ geopferten lokalen Kräfte. Ausnahmen bestätigten die Regel.
Wenn wir Otto Braun Glauben schenken dürfen, war Mao Tse-tung ein höchst volatiler politisch-militärischer Führer. Er spielte die Spitzen seiner Kader gegeneinander aus, neigte mal dieser, mal jener Richtung zu, um seine Autorität durchzusetzen. Dies war ihm mitunter wichtiger als das Gelingen operativer Vorhaben – stattete er doch inkompetente Günstlinge mit zu viel Handlungsbefugnissen aus.
Hierzu passt, dass er auch im Hinblick auf die militärische Konzeption ein „Wendehals“ war. Mal pries er das „Guerillatum“, mit dem er eigentlich prinzipielle Probleme hatte, mal größer angelegte Operationen der regulären Truppen. Je nachdem, welche militärische Linie er gerade zu kritisieren beabsichtigte.
Schlagwörter: China, Guerilla, Krieg, Lutz Unterseher, Mao, Otto Braun