von Hannes Herbst
Zum Thema systemischer Pleiten und Pannen ist „Clusterfuck“ von Holm Friebe und Detlef Gürtler eine der interessantesten Übersichten seit „Normal Accidents: Living with High-Risk Technologies“ des US-Organisationssoziologen Charles Perrow von 1984.* Und kurzweilig zu lesen überdies, nicht zuletzt aufgrund von lakonischen, teils selbstironischen Einsprengseln wie etwa: „Die Geschichte ist eine Geschichte der Klassenkämpfe, sagten Karl Marx und Friedrich Engels. Wir sagen: Die Geschichte ist eine Geschichte der Clusterfucks.“ Oder etwas weniger ambitioniert, dafür philosophischer: „Die Hauptursache von Problemen sind Lösungen.“
Den Begriff Clusterfuck prägten US-Soldaten während des amerikanischen Aggressionskrieges in Indochina für ausweglos verfahrene Situationen und Lagen, die laut Wiktionary häufig „durch Inkompetenz, Kommunikationsversagen oder ein komplexes Umfeld“ verursacht werden. Man könnte von einer multiplen Erscheinung des Murphyschen Gesetzes („Alles, was schiefgehen kann, wird schiefgehen.“) sprechen, bei der eben nicht nur alles schiefgeht, sondern auch alles auf einmal. Oder die „Einschläge“ erfolgen unmittelbar nacheinander, respektive auseinander resultierend – zum Beispiel aufgrund kaskadierender Blockaden (O-Ton Friebe und Gürtler): Weil A unterlassen oder nicht rechtzeitig in Gang gesetzt wird, kann B nicht erfolgen, was aber die Voraussetzung dafür wäre, dass C funktioniert, ohne welches wiederum D nicht … und so weiter und so fort.
Die Autoren definieren ihrerseits: „Ein Clusterfuck ist ein systemisches Problem, das die Lösungskapazität aller Beteiligten unabwendbar übersteigt.“ Und: „Clusterfucks […] ernähren sich von Konflikten.“ Letztere eskalieren zu Ersteren aufgrund menschlichen Fehlverhaltens: „Dadurch, dass jede Seite glaubt, auf Kosten der Gegenseite gewinnen und mehr für sich herausholen zu können, wird aus Win-Win Lose-Lose. Am Ende stehen alle schlechter da als notwendig.“
Was die entscheidende Rolle der Krone der Schöpfung im Verhältnis zu den in der Regel hoch komplexen Umständen und Gegebenheiten, unter denen sich Clusterfucks ereignen, anbetrifft, so legen sich Friebe und Gürtler eindeutig fest: Jeder Clusterfuck beginne „mit einem Mindfuck […], einem heimtückischen Denkdefekt“.
Etwa beim Berliner Flughafen-Großprojekt BER, das die Autoren so gründlich analysieren, dass dem Leser kein Grund mehr zu der Annahme bleibt, dass dergleichen nicht immer wieder vorkommen wird. Als Auslöser für den BER-Clusterfuck diagnostizieren Friebe und Gürtler die größenwahnsinnige Annahme der Bauherren, auf einen Generalunternehmer verzichten zu können: „Die vier Konsortien, die sich im November 2006 als BER-Generalunternehmer bewarben, fielen […] sämtlich bei der Flughafengesellschaft durch. Sie seien zu teuer, hieß es: Alle Gebote lagen über einer Milliarde Euro, während die Bauherren noch behaupteten, mit 630 Millionen Euro auszukommen. Man machte es also allein. (Hervorhebung – H.H.) Zehn Jahre und fünf Milliarden Euro später ist klar, dass hier die Chance gelegen hätte, den Clusterfuck BER zu vermeiden. Aber damals gab es offenbar niemanden unter den (Un-)Verantwortlichen, dem die Tragweite der Entscheidung bewusst gewesen wäre. Das lässt sich aus dem weiteren Verlauf der Ereignisse schließen. Es wurde nämlich an keiner Stelle eine Institution eingerichtet, die eine Verantwortung übernommen hätte, wie sie einem Generalunternehmer zugefallen wäre.“ Weitere Faktoren haben das Ausmaß des Debakels noch erheblich vergrößert. Friebe und Gürtler vermerken unter anderem: „Das zentrale Element für die BER-Clusterfuck-Produktion war die Verhinderung jeglicher Kritik.“
Dass im Übrigen in der Politik auch aus anderen Katastrophen nichts oder jedenfalls nicht das Richtige, um deren Wiederholung zu vermeiden, gelernt wird, zeigt ein anderes Beispiel par excellence, auf das die Autoren ausführlich eingehen: „Spätestens der Vietnamkrieg, der für die übermächtigen Amerikaner katastrophal schieflief, hat gezeigt, dass asymmetrische Kriege nicht beherrschbar sind. […] Die ‚Apocalypse now‘, der ultimative Clusterfuck, baut sich als Überlagerung und Auftürmung unzähliger kleiner Missgeschicke, Unwägbarkeiten und unangenehmer Überraschungen auf.“ Die Lektion ist also hinlänglich bekannt, trotzdem haben die vergangenen 20 Jahre eine einzigartige Kette von „Play it again“-Beispielen des Westens geliefert – von Afghanistan über Irak und Libyen bis Mali …
Geben uns Friebe und Gürtler wenigstens irgendetwas Tröstliches mit auf den Weg? Nein, ganz im Gegenteil – sie ziehen auch noch der letzten Illusion ziemlich brutal den Boden unter den Füßen weg: „[…] Katastrophenanfälligkeit ist der Preis, den wir für die Vermehrung und Verdichtung all dessen bezahlen, was uns lieb und teuer ist.“ Zunehmende Komplexität, und dieser Trend entwickelt sich seit Jahrzehnten eher exponentiell denn linear, erhöht die Katastrophenanfälligkeit. „Der Kontrollverlust bei hochgezüchteten Technologien wie Atomanlagen, Chemiefabriken, Luft- und Raumfahrt, Genforschung und Staudämmen ist quasi ab Werk integriert; ihr Scheitern ist deshalb als Normalfall anzusehen.“ Das wies bereits Charles Perrow nach, den Friebe und Gürtler ebenso beiziehen wie zahlreiche weitere Experten. So kann ihre Prognose letztlich nicht wirklich verwundern: Sie würden „große Zweifel [hegen] , dass Clusterfucks sich dadurch verhindern lassen, dass man sie zu verhindern versucht“.
Dazu passt abschließend noch dieses Zitat: „‚The problem with troubleshooting is that trouble shoots back.‘ Die schlimmsten Katastrophen passieren […] nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus dem Fehlschlagen der besten Absichten.“
Holm Friebe / Detlef Gürtler: Clusterfuck, Carl Hanser Verlag, München 2018, 271 Seiten, 22,00 Euro.
* Deutsche Ausgabe 1987 unter dem Titel „Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik“.
Schlagwörter: asymmetrisch, Clusterfuck, Flughafen BER, Hannes Herbst, Katastrophe, Krieg, Vietnamkrieg