von Klaus Joachim Herrmann
„Ich will nicht bei der Arbeit sterben“, protestiert eine Demonstrantin gegen die russische Rentenreform. Dabei geht ihr Blick weit in die Zukunft. Die junge Frau dürfte noch rund vier Jahrzehnte bis zum Renteneintritt haben. Der allerdings käme künftig für sie nicht mehr im Alter von 55 Jahren, sondern erst mit 63. Ihre männlichen Mitstreiter sollen statt mit 60 Jahren mit 65 Jahren in Rente gehen. Bereits 2019 soll die Anhebung des Renteneintrittsalters beginnen. Die Regierung von Dmitri Medwedjew hat es eilig. Sie will das unangenehme Thema rasch erledigen. Warum sonst hätte das Kabinett den Gesetzentwurf ausgerechnet zur Fußball-WM im eigenen Land in das Parlament einbringen und damit in die Zeit der ablenkenden Spiele die 30-tägige Frist zur Erörterung in den Regionen legen lassen sollen – eine Zeit, in der auch noch Protestveranstaltungen untersagt sind?
Statistisch dürfte aber die junge Demonstrantin den Renteneintritt und einige Zeit danach durchaus noch erleben und genießen. Laut der Prognose des russischen Amtes Rosstat wird bis zum Jahr 2028 die durchschnittliche Lebenserwartung bei Männern 75 Jahre erreichen, bei Frauen werden es bis 2034 sogar 85 Jahre sein. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland derzeit bei 72,5 Jahren. Bis zu 16 Jahre betragen aber auch regionale Unterschiede: Zehn Regionen lagen über 75, 20 unter 70 Jahren. Die Lebenserwartung von Männern ist deutlich geringer als bei Frauen: etwa 66,5 Jahre im Gegensatz zu 77,1 Jahren.
Die Reform kommt nicht so plötzlich, wie es scheint. Schon gar nicht, weil es die erste Anhebung des Renteneintrittsalters nach 85 Jahren ist. Sie soll jetzt schrittweise erfolgen. Als erste trifft sie Frauen des Geburtsjahres 1964 und Männer des Jahrgangs 1959. Bis 2034 soll der Renteneintritt bei Frauen und bis 2028 bei Männern jährlich um ein Jahr angehoben werden. Von der Reform nicht betroffen seien Werktätige an besonders gefährlichen oder gesundheitsschädlichen Arbeitsplätzen, versichern die zuständigen Minister. Arbeitsminister Maxim Topinin kündigte zudem beruhigend in der Iswestija eine Erhöhung der monatlichen Durchschnittsrente um 1000 Rubel auf 15.400 Rubel (rund 209 Euro) für das kommende Jahr an. Die werde es aber ohne eine Anhebung des Rentenalters nicht geben können. Allerdings hatte zuvor Finanzminister Anton Siluanow die Indexierung der Bezüge als eine Aufbesserung um sieben Prozent als Ausgleich für die Inflation angekündigt. Die Geldentwertung liegt derzeit bei drei Prozent und wird künftig bei vier bis viereinhalb Prozent erwartet. Wenn aber die Renten jetzt und in Zukunft steigen sollen, müssten weniger Arbeitskräfte länger arbeiten, verweist das Kabinett auf eine wachsende Zahl von Rentnern und immer weniger Arbeitskräften.
Doch lehnen nach bisherigen Prognosen zwischen 80 und 90 Prozent der Russen die Reform ab. Der Verweis auf den Renteneintritt in entwickelten westlichen Staaten zieht ebenso wenig wie der auf frühere Sowjetrepubliken. So gehen in Moldova und Aserbaidschan Männer erst mit 65 Jahren in Rente, für 2025 bis 2027 ist dies in den baltischen Staaten vorgesehen. In Armenien erhalten Frauen mit 63 Jahren Rente, Kasachstan folgt diesem Beispiel. Doch das Unbehagen ist groß wie das Misstrauen. Den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Schocktherapie der Wilden Neunziger und die Rubelkrisen zahlten die Rentner mit dem Verlust ihrer Sicherheit, der Ersparnisse und der Entwertung ihrer Bezüge.
Der namhafteste außerparlamentarische Oppositionelle, Alexej Nawalny, kann angesichts der allgemeinen Ablehnung mit besten Erfolgsaussichten zu einer gesamtrussischen Protestaktion gegen die Rentenreform aufrufen und diesmal vielleicht auch als vermeintlicher Volkstribun die Führung übernehmen: „Das ist ein gesamtnationaler und ein Protest des ganzen Volkes. Es ist gleichgültig, für wen sie gestern gestimmt haben.“ Nawalny ergreife die Gelegenheit zu einer „ernsten Konfrontation mit der Macht“, schreibt die Nowaja Gaseta. Die parlamentarische System- und die sonstige Opposition bekommen Zulauf und rücken zusammen. Inzwischen fast zwei Millionen Unterschriften und täglich mehr sammelt eine Online-Petition, die Reform auszusetzen. Gewerkschafter organisieren lokale Proteste, bieten den Kommunisten der KPRF, den Liberaldemokraten und der Partei Gerechtes Russland ein gemeinsames Vorgehen an. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, verbindet seine Kritik an der Reform mit dem Vorschlag zu einem landesweiten Referendum. Zwei Millionen Unterschriften wären zu sammeln. Dann könnte der Versuch unternommen werden, dass es mit dem Eintrittsalter beim Alten bleibt.
„Sozialleistungen und das gegenwärtige Rentensystem – das sind Elemente des sowjetischen Sozialstaates“, erläutert der Chef des Meinungsforschungsinstitutes WZIOM, Waleri Fjodorow, gegenüber der Zeitung Kommersant die allgemeine Ablehnung. „Wenn der nachsowjetische Staat das aufheben will, versteht das die Mehrheit der Russen als Angriff auf ihre Rechte.“ Ein ähnlicher Vorstoß war 2005 auf Massenproteste gestoßen. Der Präsident musste die Reform abschwächen. Mit der Fußballweltmeisterschaft am 15. Juli endet auch das Verbot von Protestaktionen in Russland. Für den 19. Juli ist die erste Lesung des Gesetzentwurfes in der Duma angesetzt. Bis zum Herbst will Oberhauschefin Walentina Matwijenko die Reform erledigt haben: „Wir können das nicht aufschieben, weil wir die Verantwortung nicht auf jene abschieben können, die nach uns kommen.“
„Zweifellos ist die Initiative der Regierung zu einer Rentenreform von großer sozialer Bedeutung, ein Thema mit großer Resonanz. Es verdient eine gewissenhafte Erörterung“, rettet sich Kremlsprecher Dmitri Peskow derweil in Allgemeinheiten. Putin bleibt in Reserve. Der Präsident nehme noch nicht an der Auseinandersetzung der Experten teil, wiederholt Peskow mehrfach. Solche Zurückhaltung wird auf Dauer nicht gut gehen. Schon jetzt zahlt Wladimir Putin mit Prozenten seines Ansehens für die neuen Rentenregeln. Seine Wählerschaft von stolzen 76,7 Prozent bei der Wahl vom 18. März 2018 schrumpft Mitte Juni auf 54 Prozent, wie der Fonds Öffentliche Meinung (FOM) ermittelte. Eine Woche zuvor hatte Putin nach seinem großen Fernsehauftritt im Dialog mit den Bürgern 62 Prozent geholt. Da gab es noch stundenlang Antwort auf jede Frage.
Jetzt hält sich der Kremlchef öffentlich heraus, doch niemand kann einen Alleingang Medwedjews auch nur in Betracht ziehen. So büßt Putin gemeinsam mit Premier und Regierung laut den Demoskopen des WZIOM im Schnitt drei Prozent Zustimmung ein. Der Staatschef schaue nicht auf Umfragen, lässt er seinen Sprecher abwiegeln, für ihn sei die Erfüllung seiner Pflichten das Wichtigste. Doch nicht nur in den Medien erinnert man sich eines inzwischen 13 Jahre alten Machtwortes aus dem Kreml. 2005 hatte Putin versichert, dass es keine Anhebung des Rentenalters im Lande geben werde, solange er Präsident sei. „Natürlich gibt es demographische sowie wirtschaftliche Änderungen und auch Änderungen der internationalen Konjunktur“, argumentiert heute sein Sprecher. Damit meint er aber lediglich, dass sich die Zeiten ändern.
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