von Wolfgang Brauer
Das ist ein Satz mit Ewigkeitswert: „Es ist allerdings unmöglich, Menschen gerecht zu beurteilen, […] wenn man ihre Sprache nicht versteht.“ Aufgeschrieben hat ihn Mary Shelley, die Schöpferin von „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ (1818). Er findet sich unter dem Datum 2. September 1842 ganz am Anfang des zweiten Bandes ihrer „Streifzüge durch Deutschland und Italien“. Sie fuhr mit ihren Begleitern gerade von Dresden aus Richtung Budweis und hörte überall nur böhmische Dörfer. Die Böhmen seien „wirklich auf einzigartige Weise vom Rest der Welt abgeschnitten. Ihre Sprache gehört ihnen allein – sie wird jenseits der Grenze nicht verstanden.“ Aber immerhin geht die Lady einigermaßen freundlich mit ihnen um. Deutsch verstand sie auch nicht. Das hinderte sie nicht daran, entgegen der eigenen Einsichten den Deutschen einige Chronistinnen-Ohrfeigen zu versetzen.
Aber sie war sowieso nur auf der Durchreise. Italien war das Sehnsuchtsziel. Das hatte weniger mit der traditionellen transalpinischen Italienschwärmerei der Kunst-Epoche („Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn’?“) zu tun – Italien war für Mary Shelley zur zweiten Heimat geworden. Sie beherrschte die Sprache. Sie kannte und liebte dessen Kultur und Geschichte. Auch Italienisches war fruchtbarer Stoff ihres in Deutschland immer noch sehr zu Unrecht fast ausschließlich auf den „Frankenstein“ reduzierten Werkes. Einer verklärenden Sicht verfiel sie dennoch nicht. Mit Italien verbanden sich furchtbarste biographische Erfahrungen, hier verlor sie ihren Mann und zwei Kinder. Anders als die meisten ihrer den Süden bereisenden Landsleute legte sie ihren durch die englischen Gesellschaftserfahrungen geschärften sozialkritischen Blick nie ab. Darin blieb sie ganz die Tochter William Godwins und der Mary Wollstonecraft: „Ich wünschte, ich hätte einen Zauberstab – damit würde ich sie zu Besitzern des Bodens machen, auf dem sie ackern, aber nicht ernten dürfen!“ Mit „sie“ sind die Landleute Kampaniens gemeint, die sich nicht in der Lage sahen, durch ihrer Hände Arbeit das Überleben der eigenen Kinder zu sichern.
Nun hat Mary Shelley kein politisches Buch geschrieben. Auch der zweite Teil der „Streifzüge“ ist ein Reisebuch. Aber es ist ein Reisebuch der besonderen Art. Selbstverständlich schwelgt die Freundin der Künste in den Beschreibungen der bemalten Leinwände und Mauern der venezianischen, florentinischen und römischen Sammlungen und Kirchen. Selbstverständlich gerät sie angesichts der Traumlandschaften vor allem Capris und der Amalfiküste in nachvollziehbare Verzückung. Heute, das sei nur am Rande bemerkt, würde ihr ein Satz wie „die Cocumella ist mein Zuhause geworden“ nur noch schwer aus der Feder fließen: Der Blick von der Terrasse ihres seinerzeitigen Quartiers, des heutigen „Grand Hotel Cocumella“ auf den Golf ist nach wie vor atemberaubend, die Preise sind es inzwischen auch. Mary Shelley hingegen musste sehr genau rechnen… Allerdings konterkariert sie zu heftige eigene Schwärmereien immer wieder mit feinster Ironie – etwa wenn sie den Aufstieg ihrer kleinen Reisegesellschaft von Amalfi nach Ravello mit Hilfe von 30 (dreißig!) Trägern unter dem Schutz von zwei Polizeioffizieren beschreibt, deren Waffen alles andere als einsatzfähig waren.
Dennoch sind Shelleys politische Beobachtungen spannend: Sie bereiste das Land zu einer Zeit, als die großen Verschwörungen der Carbonari zerschlagen waren und sich dennoch das Risorgimento, die Unabhängigkeitsbewegung unter Führung von Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi, unaufhaltsam Bahn zu brechen begann. Mary Shelley verstand das Menetekel zu lesen – und bei aller Abscheu Geheimbünden gegenüber, die sie zeitlebens empfand, gehörte diesen Männern ihre uneingeschränkte Sympathie. Vor diesem Hintergrund muss man auch ihre Beschreibungen der zeitgenössischen italienischen Literatur, sie war eine profunde Kennerin, lesen. Ihre Bewunderung gilt Alessandro Manzoni, dessen „I Promessi Sposi“ („Die Verlobten“) sie aber offenbar nur in der Erstfassung von 1827 kannte. Das Buch fällt bei ihr als vermeintliche Apologie des Katholizismus rigoros durch.
In diese Zusammenhänge gehört auch ihre Beschreibung der römischen Cholera-Epidemie von 1837, der allein in der Stadt Rom nach den von Mary Shelley zitierten Daten von 150.000 Einwohnern 35.000 zum Opfer fielen. Diese Zahl dürfte allerdings genauso übertrieben sein, wie die vom Vatikan angegebenen 5419 Toten stark untertrieben sein werden. Papst Gregor XVI. suchte der Seuche mit einer Prozession entgegenzutreten – das machte alles noch schlimmer. Mary Shelley kannte das Ereignis nur aus Berichten Dritter – aber sie machte es zum treffenden Bild für die Verkommenheit und Morbidität des Vatikanstaates, der sich sinnbildlich für das gesamte alte Italien überlebt hatte.
Wenn im Nachwort des Bandes Rebekka Rohleder feststellt, dass Italien in diesem Text „eigentlich gnadenlos mit Bedeutung überladen“ sei, so stimmt dies in einigen Abschnitten durchaus. Die große Kunst Mary Shelleys bestand aber darin, uns einen grandios gewebten Erzähl-Teppich vorgelegt zu haben, der uns ihr Sehnsuchtsland auf faszinierende Weise näherbringt und manch aktuelle Merkwürdigkeit italienischer Zustände besser verstehen lässt. Heutige Leserinnen und Leser können einer Autorin begegnen, die es verdient hat, wieder stärkere Beachtung zu finden.
Die Übersetzungsleistung Nadine Erlers und die qualitätsvolle Ausstattung der „Streifzüge“ durch den Verlag gehören hervorgehoben.
Mary Shelley: Streifzüge durch Deutschland und Italien in den Jahren 1840, 1842 und 1843. Band Zwei, CORSO in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2018, 256 Seiten, 24,00 Euro.
Schlagwörter: Italien, Mary Shelley, Reisebuch, Wolfgang Brauer