21. Jahrgang | Nummer 12 | 4. Juni 2018

Ein Panzer als Provokation

von Lutz Unterseher

9. Mai 2015, Roter Platz in Moskau. Etwas über ein Jahr nach der Annexion der Krim und der Initiierung der Rebellion in der Ostukraine durch Russland. Bei der Parade zum 70. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über Hitlerdeutschland rollen einige Kampfpanzer neuen Typs an der Tribüne der Prominenz vorbei. Es handelt sich um Vehikel mit der eindrucksvollen Bezeichnung „Armata T-14“. Alsbald wurden dem Gefährt von der Propaganda des russischen Verteidigungsministeriums geradezu phantastische Eigenschaften zugeschrieben. Die übrigen PR-Kanäle Moskaus vervielfältigten dies.
Die Botschaft kam im Westen an. In den Medien wurde berichtet, dass der T-14 vielen Fachleuten als der fortschrittlichste Panzer der Welt gelte. Die Panzerfachredaktion des STERN schrieb diesem einen „Tarnkappenanstrich“ zu und fiel auf die von russischen Experten gestreute Spekulation herein, dass der Panzer auf eine mächtige 152 mm-Kanone umgerüstet werden könne (als Ersatz für die neuentwickelte 125 mm-Waffe). Auch der britische Geheimdienst mischte sich in den Chor der Beeindruckten, sah extreme Vorteile der Russen gegenüber westlichen Kampfpanzern, um nahezulegen, dass kräftig nachgerüstet werden müsse. Das bekannte Spiel aus dem guten alten Kalten Krieg.
Was sind die wesentlichen Merkmale des Wunderpanzers? Was wird ihm an großartigen Qualitäten zugeschrieben?
Der T-14 wird als Kampfpanzer der 3. Entwicklungsgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg bezeichnet – und zwar wegen der Trennung von Besatzung und Turm, welch letzterer deswegen vollständig automatisiert ist. In der Tat hat die westlich inspirierte Panzerentwicklung bisher am Konzept des bemannten Turmes festgehalten (2. Generation) und in Einzelfällen allenfalls den Ladevorgang der Hauptwaffe automatisiert.
Wegen der angeblich insgesamt überlegenen Schutzvorkehrungen, vor allem aber wegen des starken frontalen Panzers und der Unterbringung der dreiköpfigen Besatzung in einer dahinterliegenden gepanzerten Kapsel (vor dem Turm) sei der „menschliche Faktor“ besser geschützt als in allen anderen Kampfpanzern der Welt. Gleichwohl sei der Panzer bei einem Gewicht von knapp 50 Tonnen viel schneller als seine westliche Konkurrenz, die bei ähnlicher Antriebskraft zumeist deutlich mehr Gewicht auf die Waage bringt. (Die Aussage des Geschwindigkeitsvorteils ist allerdings mittlerweile etwas relativiert worden.)
Auch im Hinblick auf die Feuerkraft ergebe sich eine Überlegenheit des T-14: habe doch dessen 125 mm-Kanone eine größere Mündungsenergie als die für den Westen typische 120 mm-Waffe des Leopard 2 und somit eine signifikant größere Wirkung im Ziel.
Last, but not least wird die Tatsache hervorgehoben, dass neben dem Armata T-14 ein Kampfschützenpanzer (T-15) entwickelt wurde, dieser paradierte ebenfalls auf dem Roten Platz, der auf der Grundkonstruktion des Ersteren basiert (Motor und Kraftübertragung allerdings vorne statt hinten) und der deswegen ähnliche Schutz- und Mobilitätscharakteristika hat: eine ideale Voraussetzung für die oft erforderliche enge Kooperation zwischen Panzern und Panzergrenadieren. Der durch die technologische Innovation ausgelöste Schock fand unmittelbar nach der Maiparade 2015 seine Entsprechung darin, dass verkündet wurde, alsbald werde die Serienproduktion des T-14 anlaufen. Geplant sei die Fertigung von 2.300 Panzern bis zum Anfang des kommenden Jahrzehnts. Damit war die Drohgeste perfekt. Haben doch die europäischen Anrainer Russlands, wenn sie denn wie Polen und die Ukraine überhaupt über nennenswerte Zahlen an Kampfpanzern verfügen, mit gewissen Ausnahmen (Leopard 2 bilden einen Teil des polnischen Potentials) nur eher leistungsschwaches Gerät in ihren Arsenalen.
Damit fiel der Blick auf die deutsche Bundeswehr, deren Panzerkräfte als „Verstärkung in der Not“ hätten imaginiert werden können. Doch verfügte die Truppe 2015 über nicht mehr als 225 Leopard 2. Im Jahre 1989 hatte die Bundeswehr noch über 5.000 (!) Kampfpanzer.
Der wegen seiner Originalität gefeierte T-14 ist in der Grundkonstruktion eine 1:1-Kopie des TTB (Tank Test Bed) der U. S. Army aus den 1980er Jahren. Die US-amerikanische Entwicklung wurde freilich nicht weitergeführt. Man ließ den Prototypen vor sich hin rosten, um ihn schließlich zu renovieren und in einem Militärmuseum auszustellen.
Warum wurde diese Entwicklung nicht zu Ende gebracht? Die mit dem TTB gegebene Innovation war nahezu revolutionär und erforderte eine Reihe von komplexen technischen Einzellösungen, die sehr aufwändig zu sein versprachen. Die entsprechenden Kosten ließen offenbar mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht mehr zu rechtfertigen.
Ein besonderer Aufwand ergab sich durch die Trennung von Besatzung und Turm und der damit verknüpften Tatsache, dass Rundumbeobachtung, Zielerfassung und -verfolgung ausschließlich durch optronische Mittel zu geschehen hatten. Die damals zu diesen Zwecken zur Verfügung stehende Elektronik beziehungsweise TV-Technik erwies sich bei beträchtlichem Raumbedarf als störanfällig und nur von eher begrenzter Leistungsfähigkeit. Dies trifft gegenwärtig nicht mehr im einstigen Ausmaß zu.
Neben dieser Problematik gab es einen weiteren wichtigen Grund, das TTB-Vorhaben aufzugeben. Insbesondere die Praktiker aus der Panzertruppe fürchteten, dass mit dem rein optronischen Zugang zur Außenwelt, ausschließlich über Bildschirme, der Sinn für die „wirkliche Wirklichkeit“ verloren gehen und dadurch die taktische Orientierung leiden würde. Diese Besorgnis lässt sich heute natürlich auch auf den T-14 beziehen.
Zu hinterfragen ist zudem die Behauptung, dass der T-14 vor Feindeinwirkung in ganz besonderem Maße geschützt sei: Zunächst sticht ins Auge, dass der Panzer eine hohe Silhouette und ungewöhnlich viele „Fangstellen“ hat (also Geschosse nicht abweist, sondern durch problematische Oberflächengestaltung Trefferwirkungen geradezu einlädt).
Darüber hinaus fällt in diesem Kontext auf, dass der T-14 bei ähnlicher Breite fast 15 Prozent länger als westliche Gegenstücke ist (jeweils ohne den Kanonenüberstand gemessen), also die zu panzernde „Außenhaut“ eine signifikant größere Fläche aufweist.
Wenn dies auf die Tatsache bezogen wird, dass der russische Wunderpanzer mindestens 15 Prozent leichter ist als die Konkurrenz, ergibt sich, dass in seinem Fall pro Flächeneinheit erheblich weniger Masse zu Schutzzwecken zur Verfügung steht.
Dies bedeutet, dass – wenn die Behauptung eines ganz besonderen Schutzes der Armata-Besatzung der Realität entspricht – für das übrige Vehikel eine Panzerung angenommen werden muss, die weit hinter den westlichen Standard zurückfällt und deren Schwäche das Vehikel als Ganzes gefährdet.
Das Argument, dass diese Schwäche durch abstandsaktive Systeme (radargesteuerte, automatiserte Geschossabwehr) kompensiert werden könne, überzeugt nur sehr bedingt: ist doch deren Installation ohne eigenen Panzerschutz und damit etwa durch Granatsplitter oder andere Einwirkungen, die für das Gefechtsfeld typisch sind, leicht auszuschalten.
Schließlich zur Feuerkraft: Mag auch die Mündungsenergie der neuen russischen Panzerkanone größer sein als die der im Westen verwendeten Waffen, so ist das doch nicht die ganze Geschichte. Geht es um die Feuerkraft, muss nämlich auch die Schusspräzision berücksichtigt werden, die traditionell bei westlichen Waffenanlagen wesentlich höher ist. Vor diesem Hintergrund bleibt abzuwarten, ob die russische Kanonenkonkurrenz wirklich ernst genommen werden sollte.
Bisher wurde im Westen eine Nachrüstung auf ein stärkeres Kaliber nicht für dringlich gehalten. Für den Fall der Fälle stehen allerdings Lösungen bereit: etwa eine 130 mm-Kanone von Rheinmetall, die das russische Produkt klar deklassieren dürfte.
Nach dem offiziellen Hurra kam die Ernüchterung. Die beabsichtigte Betonung militärischer Macht, die gezielte Provokation, verpuffte – zumindest zunächst. Die Produktionsziele für die Armata-Familie wurden nämlich nach unten korrigiert – und zwar sehr drastisch. Es wurde verlautbart, dass die Erprobung noch bis Ende 2019 andauern müsse und dass danach zunächst eine Fertigung von nur 100 Kampfplattformen geplant sei, zusätzliche nach Bedarf. Dann war von einer weiteren Reduzierung die Rede, nämlich auf 70.
Nach aktuellem Stand ist ab 2020 die Ausrüstung zweier Panzerbataillone der Moskauer Division „Taman“ mit T-14 und einem weiteren Bataillon (mech. Schützen/Panzergrenadiere) mit T-15 geplant. Daraus errechnet sich, einschließlich einer Materialreserve, eine Gesamtzahl von circa 100 Fahrzeugen. Zum Ausgleich der Programmverschiebung ist allerdings vorgesehen, Panzer der 2. Generation, die russische Armee verfügt über etliche Tausend, zu modernisieren.
Warum die Gewaltschrumpfung eines ambitionierten Vorhabens? Der Hauptgrund dürfte darin liegen, dass der russischen Armee weniger Mittel zur Verfügung stehen – lassen sich doch nach einem sehr beträchtlichen Anstieg der Verteidigungsausgaben Russlands zwischen 2011 und 2016 fast dramatische Kürzungen feststellen: 2017 um 17, 2018 gar um 20 Prozent.
Dies könnte zum einen damit zusammenhängen, dass die mit dem Wiederanstieg des Ölpreises auf dem Weltmarkt verknüpfte allmähliche Erholung der wirtschaftlichen Situation Russlands (Strukturreformen der Industrie stehen immer noch aus), gestützt werden soll. Zum anderen mag auch, und dies erscheint wichtiger, eine unmittelbare Besserung der materiellen Lage der Bürgerinnen und Bürger durch sozialpolitische Maßnahmen ursächlich für die Einsparungen im Rüstungssektor sein.
Ein Regime, das echte freie Wahlen nicht zulässt und übrigens auch die Umfrageforschung knebelt, kann sich der Legitimität seiner Herrschaft nicht sicher sein. Wenn die Option offenen Terrors nicht zeitgemäß erscheint und die nationalistische Massenerregung nicht hinreicht, muss es sich großzügig geben.
Schließlich kann die Politik der Rüstungskürzungen ihren Grund auch darin haben, dass die Moskauer Führung dem Westen signalisieren will, dass kein Interesse an einer Neuauflage des Wettrüstens besteht. Plausibel, denn der Vergleich der Ressourcen der potentiellen Streithähne legt dies nahe.
Dies muss jedoch keineswegs bedeuten, dass Russland prinzipiell auf Mittel der Konfrontation verzichtet. Man denke an das Konzept der hybriden Kriegführung, in dessen Rahmen Desinformation, Cyber War oder auch die anonymen Männer in den grünen Kampfanzügen wichtige Rollen spielen!
Es gibt freilich auch genuin militärische Gründe dafür, das Armata-Programm auf den Prüfstand zu stellen. Das Problem der taktischen Orientierung wurde bereits angesprochen. Auch im Moskauer Generalstab dürfte man sich darüber Gedanken machen. Ebenso mag gefragt werden, für welche Szenarien sich die Armata-Familie eignet. Sicherlich für auf Distanz geführte Gefechte von Panzertruppen in der ukrainischen Steppe. Aber ist dies wahrscheinlich?
Probleme gäbe es jedenfalls im Zusammenhang mit Szenarien, die eher unserer Zeit entsprechen. Wie würde es um die Manövrierfähigkeit des sperrigen T-14 (der T-15 hat noch erheblich größere Abmessungen) etwa in einer zerklüfteten Wüstenlandschaft oder in den Ruinen einer nahöstlichen Großstadt stehen?
Auf den ersten Schock, den die Premiere auf der Maiparade auslöste, reagierte die Berliner Regierung moderat. Um den Nachbarn und Verbündeten im Osten Solidarität zu bekunden, wurde die Vermehrung des Panzerbestandes der Bundeswehr um knapp 50 Prozent beschlossen: angesichts der schmalen Ausgangsbasis wahrlich nichts Dramatisches.
Ebenfalls schloss Berlin mit Paris einen Kooperationsvertrag zwecks Entwicklung eines High-Tech-Kampfpanzers mit der Lange-Bank-Perspektive 2030. Vor dem Hintergrund bisheriger Erfahrungen mit ähnlichen deutsch-französischen Gemeinschaftsunternehmungen ist dabei aber kaum ein tragfähiges Resultat zu erwarten.