21. Jahrgang | Nummer 12 | 4. Juni 2018

Der Ort, an dem wir recht haben…

von Irmtraud Gutschke

Wie mag er sich gefühlt haben in diesen Tagen, als sich in seinem Land die Gewalt zuspitzte, die jede Seite als Gegengewalt deklarierte? Wie viele Möglichkeiten sieht der Schriftsteller Amos Oz da noch, im israelisch-palästinensischen Konflikt zu vermitteln? Dass es diesen Konflikt schon gab, seit er auf der Welt ist, würde er vielleicht antworten. Sollte da nicht die Einsicht wachsen, dass es so nicht weitergehen kann? Aber die USA haben gerade ihre Botschaft in den von Israel widerrechtlich besetzten Teil Jerusalems verlegt und das Atomabkommen mit Iran aufgekündigt. Signale einer neuen Eskalation, in die auch andere Länder hineingezogen werden. Oder birgt gerade die Zuspitzung eines Konflikts die Chance, dass ihm die Spitze abgebrochen wird?
Immer wieder, auch in diesem Buch, hat Amos Oz vor „Shakespeareschen Lösungen“ gewarnt, wenn am Ende einer gesiegt hat, aber die Bühne ist mit Leichen übersät. Bei Tschechow dagegen würden alle irgendwie traurig sein, weil keiner vollständig bekam, was er wollte. Aber alle seien am Leben geblieben. Israel und der nicht existierende palästinensische Staat: Würde Ruhe eintreten, wenn es auch letzteren gäbe? Schwierig, schwierig. Aber Amos Oz sieht in der Zweistaatenlösung einen ersten Schritt, um vielleicht zu friedlicher Annäherung zu kommen, zumal er sich nicht sicher ist, ob sich die Politik der USA gegenüber Israel nicht irgendwann ändern könnte.
Er liebt sein Land, kann sich kein anderes für sich denken. Aber als linker Zionist, wie er sich nennt, sieht er sich von vielen Seiten Anfechtungen ausgesetzt. Eine „normale Situation“, wie sie durch den Zionismus „von Herzl, Chaim Weizmann, Ben-Gurion und Jabotinsky angestrebt“ war, sei von manchen gar nicht gewollt. In den Augen vieler „Anhänger des rechten politischen Flügels und des halachischen Judentums der Siedler“ sind „Verfolgung, Belagerung und ‘der Feind vor dem Tor’ eigentlich ‘freundliche Zustände’, die wir aus unserer ganzen Geschichte gut kennen und die unsere Identität stärken.“
Dagegen setzt Amos Oz die Traditionen jüdischer Kultur, die immer eine Kultur der Pluralität, des Zweifelns, des Ausdiskutierens gewesen ist. Und er vertieft sich in die jüdischen Schriften, von denen wir durch ihn viel Interessantes erfahren. Er argumentiert gelassen, freundlich – das Buch heißt ja auch „Liebe Fanatiker“. Aber werden es seine Gegner lesen?
Würde es etwas bringen, in Schulen und Universitäten Kurse in „vergleichender Fanatismusforschung“ einzurichten, wie er vorschlägt? Allein schon die Einsicht, wie Gegner einander oft gleichen, kann doch nachdenklich machen. Provokativ klingt es, wenn er in einem Absatz auf Seite 22 die verschiedensten „Fanatismen“ in einem Satz zusammenfasst – von Al Kaida über Neonazis, den Ku-Klux-Klan bis hin zu den extremistischen Siedlern. „Wir sehen sie täglich im Fernsehen, wie sie […] die Fäuste in die Kameras ballen […]. Doch es gibt auch weniger auffallende und weniger sichtbare Ausprägungen des Fanatismus um uns herum und manchmal auch in uns selbst.“ Das Eifern gegeneinander scheint – individuell mehr oder weniger stark ausgeprägt – wirklich in der menschlichen Natur zu liegen und bedarf, wie so vieles andere, einer Kultivierung.
Wenn Ungerechtigkeit aber zum Himmel schreit? Ist da etwa Stillhalten geboten? Freilich hat in den letzten Jahren nichts von dem, was als „Revolution“ bezeichnet wurde, den Unterdrückten wirklich genutzt. Im Gegenteil, Gewalt eskalierte, wofür es international auch Nutznießer gab. Konflikte, die sich immer mehr ausweiten – man hat das Gefühl, nicht einmal alles darüber zu wissen, aber was man weiß, bestärkt eine Hilflosigkeit, die selbst schon wieder Quelle eines alltäglichen Fanatismus werden kann. Insofern geht es in diesem Buch um Weltprobleme und auch um unser Leben hier.
Aufregung überall. Oder liegt das nur an der Wahrnehmung durch die Medien? Würden wir uns davon abkoppeln (viele tun es inzwischen), gäbe es die alarmierenden Nachrichten indes auch ohne unser Wissen. Die Gewalt in der Welt würde nicht kleiner, allerdings wird sie das, leider, auch durch unsere Besorgnis nicht. Sorgen und Ohnmachtsgefühle – Amos Oz hat sicher nicht Unrecht, dass in Zeiten grassierender Unsicherheit die Bereitschaft wächst, in Schwarz-Weiß-Weltbildern Zuflucht zu suchen und sich Leuten anzuschließen, die einfache Lösungen in Aussicht stellen. Die Medienmaschinerie hat Anteil daran.
Krisenstimmung – für manche so bedrückend, als ob morgen schon Weltuntergang wäre. Alarmsirenen, so dass man beim Zeitunglesen manchmal schon kaum etwas anderes hört. Ein Lärm, der die gesamte Öffentlichkeit durchgellt – bis hin zu den Künsten. Auch da ist Spektakuläres, Extremes gefragt, als ob die Geschmacksnerven des Publikums schon so abgestumpft seien, dass nur noch unangenehm Überwürztes überhaupt wahrgenommen wird.
Das liegt natürlich an der allgegenwärtigen Konkurrenz, am Kampf um Aufmerksamkeit. Welche Zeitung wird gelesen und welche nicht? Wie viele „Klicks“ bekommt ein Text im Internet? Wichtiges vermischt sich mit Nebensächlichem. Und Entscheidendes vollzieht sich hinter unserem Rücken, während wir wie Zuschauer in einem erschreckenden Spektakel sind.
An der wachsenden Infantilisierung der Menschheit, so Amos Oz, gibt es Interessen, sei es „aus Macht- oder Geldgier. Vor unseren Augen verwischen sich die Grenzen zwischen Politik und Unterhaltungsindustrie. Die ganze Welt verwandelt sich in einen ‘globalen Kindergarten’.“ Wobei er sogar eine Verbindung sieht zwischen den Vergnügungssüchtigen und den Eiferern. Denn diese wie jene verzichten auf Nachdenklichkeit und Differenzierung. Ausrufezeichen gegen Ausrufezeichen – aber Verbissenheit lässt sich nicht durch Verbissenheit auflösen. Fanatiker meinen, in einem einfachen Wildwestfilm der „Guten“ gegen die „Bösen“ zu leben und schwelgen dabei in „einer Mischung aus kochender Wut und klebrigem Selbstmitleid“. Da sollte man nicht mit gleicher Münze heimzahlen, sondern „für Momente in die Schuhe der anderen schlüpfen …, nur um nachvollziehen und spüren zu können: Was treibt diese Leute an“?
Denn immer geht es ja um Menschen, die für sich etwas bewegen oder sich vor etwas schützen wollen. Neugier, Humor, Gelassenheit – da denkt Amos Oz an seine Großmutter: „Sie kannte das Geheimnis, wie man in einer ungewissen Existenz lebt und vielleicht kannte sie sogar den Reiz offener Situationen, das Vergnügen, das die Nuancen geben, den Reichtum, der in unserem Leben in Nachbarschaft mit anderen Menschen liegt …“ Und ich musste beim Lesen an meine Mutter denken, wie sie sich überhaupt nicht dafür interessierte, wenn ich im Streit mit meiner Schwester recht zu haben glaubte. „Aber sie hat angefangen“, klagte ich. Meine Mutter dagegen: „Ich stoße euch gleich mit den Köpfen zusammen.“ Wozu es nie kommen würde, wie wir wussten. Wir sollten miteinander auskommen, wie wir waren.
Dazu gibt es ein schönes Gedicht von Jehuda Amichai, aus dem Amos Oz auf Seite 51 zitiert: „An dem Ort, an dem wir recht haben, / werden niemals Blumen wachsen im Frühling./ Der Ort, an dem wir recht haben, / ist zertrampelt und hart wie ein Hof.“

neues deutschland, 26.05.2018, Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.

Amos Oz: Liebe Fanatiker. Drei Plädoyers, Suhrkamp, Berlin 2018, 143 Seiten, 18,00 Euro.