von Bettina Müller
Die politische Botschaft, die Josef Wiener-Braunsberg in der Zeitschrift ULK (Unsinn, Leichtsinn, Kneipsinn), der Wochenbeilage des Berliner Tageblatts, mehrmals zum Ausdruck brachte, war klar und deutlich: „Die Reaktion bringt dir Elend und Not, die Demokratie bringt dir Frieden und Brot. Nun wähle!“ Im April 1920 hatte Wiener-Braunsberg die Nachfolge Kurt Tucholskys als Chefredakteur angetreten, „Tucho“ sollte ihn später als „durch und durch anständigen Kollegen“ loben. Wiener-Braunsberg führte die ihm vorgegebene politische Linie des Blattes fort, die zu dieser Zeit maßgeblich von Theodor Wolff geprägt wurde, dem Chefredakteur des Berliner Tageblatts und Gründungsmitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Für seine „Leitgedichte“, die jede Woche über 250.000 Leser erreichten, legte sich der 1866 im ostpreußischen Braunsberg als Josef Wiener geborene Sohn des (jüdischen) Kinderarztes Dr. Wilhelm Wiener und dessen Ehefrau Doris geborene Müller das trügerische Pseudonym „Der Sanfte Heinrich“ (eine Art Branntwein oder Schnaps) zu und widmete sich fortan der literarischen Verarbeitung aktueller politischer Gegebenheiten. Dabei scheute er sich nicht, den politischen Gegner persönlich anzusprechen, wie nach dem gescheiterten Hitlerputsch am 8./9. November 1923 im Münchner Bürgerbräukeller: „Sie leben noch, Herr Adolf Hitler, Sie Baldur aus dem Ungarland, / Sie tapfrer Judenniederknittler, der Freiheit Hort und Unterpfand? Wie sprachen Sie doch, edler Krieger, von der Begeist’rung heiß durchloht? „Der Morgen findet uns als Sieger, wenn nicht, so findet er uns tot!“ (Der Schwur im ‚Bürgerbräu’, 14.12.1923). Als überzeugter Anhänger der DDP warnte er oft vor den extrem links- und rechtsgerichteten Parteien. Dabei konnten seine Leitgedichte gelegentlich in eine satirische und sehr direkte Abrechnung mit den vielfältigen Feinden der Demokratie münden, wie etwa am 7. Mai 1920 in dem Gedicht „Der Korrekte“, dessen Titel auf das Couplet „Immer Korrekt“ des Humoristen Otto Reutter anspielte: „Ich bin von Herkunft und rasserein, nicht so ein vermanschtes Rasseschwein, bewund’re mit Ehrfurcht, fremdstämmiger Wicht, mein arisches Wesen, mein arisch Gesicht! – Mein Urahn schon lag wohlgebaut, tagsüber am Rhein auf der Bärenhaut, und soff den Met, wie ich saufe den Sekt: auch er war korrekt, war enorm korrekt!“ Den Mund verbieten ließ er sich selten und so ließen die Folgen seiner verbalen Angriffe nicht lange auf sich warten: unfreundliche Briefe von „angeekelten“ Lesern, mehrmaliges ULK-Verbot im Ruhrgebiet während der Ruhrkrise 1923, mindestens eine Verleumdungsklage und Schmähungen durch die Nationalsozialisten. Sein Gedicht „Fasching“, eigentlich eine Satire auf „sittliche Ausschweifungen“ der Berliner Künstlerszene, verzerrten sie so lange, bis daraus eine angebliche „Schändung nichtjüdischer Mädchen“ wurde und Wiener-Braunsberg deswegen am 30. April 1926 in der Reichs-Sturmfahne verbal an den Pranger gestellt wurde. Ein Jahr zuvor war er bereits per Gerichtsurteil wegen Beleidigung des Jenaer Professors Ludwig Plate zu einer Geldstrafe von 200 Goldmark verurteilt worden: „Esel schuf in jeglichem Formate, einst der Ew’ge, Rind und Schaf und Pferd, außerdem auch den Professor Plate, der Zoologie in Jena lehrt“, reimte er in der ersten Strophe über den antisemitischen Zoologen, in dessen Vorlesungen in den ersten vier Reihen nur „Arier“ sitzen durften.
Seine Karriere begonnen hatte Josef Wiener, ursprünglich Buchhändler von Beruf, mit ersten Versveröffentlichungen in humoristischen Zeitschriften. 1899 heiratete er die Stellmachertochter Pauline Alder und zog von Dresden, wo er vier Jahre als freier Schriftsteller gelebt hatte, dauerhaft nach Berlin. Für Josef Wiener-Braunsberg, wie er sich als Reminiszenz an seine Geburtsstadt nannte, bedeutete die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg einen Karriereschub. Der Krieg hatte auch für ihn eine tiefe Zäsur gebracht: Während ihm seine Herausgebertätigkeit für die monarchietreue Zeitschrift Beim Lampenschimmer keinen Spielraum für humoristische und satirische Spitzen gelassen hatte, waren sie im ULK nun ausdrücklich erwünscht. Dass Wiener-Braunsberg aber auch an den schwierigen Zeitumständen litt und in der Folge gelegentlich die kritische Distanz verlor, zeigte sich in seinen Leitgedichten, die auch zu einem Gradmesser persönlicher Empfindungen werden konnten. Tief erschüttert hatte ihn der Tod des Außenministers Walther Rathenau, der am 24. Juni 1922 von zwei Offizieren der rechtsradikalen Organisation Consul ermordet wurde, so dass er ihm am 16. Juli 1922 das bewegende Leitgedicht „Sein Grab“ widmete: „Der Sommerwind streicht über Busch und Heide, / umkost in Gärten Rosen und Jasmin, / und draußen auch, in Oberschönweide, / spielt er mit Blumen, die auf Gräbern blühn. / Dort, wo gleich steingewordner Totenklage / sich die Zypresse reckt zum Himmelsblau / schläft ungestört in seinem Sarkophage / den ew’gen Schlummer Walter Rathenau […]“
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Wiener-Braunsberg mit seinen Romanen nicht mehr an seinen weit zurückliegenden Erstlingserfolg anknüpfen können. 1923 gelang ihm mit „Die Venus von der Tauentzien“ das lang ersehnte Comeback. Seine atmosphärischen Beschreibungen des Berliner Nachtlebens lassen für heutige Verhältnisse einen nostalgischen Einblick in eine längst untergegangene Zeit zu, der Subkontext ist jedoch von einer Schwere geprägt, die der Krieg und seine dramatischen Folgen über Mensch und Stadt gebracht haben.
1924 lockte ihn schließlich auch der Stummfilm als Drehbuchautor und sein „Warenhausmädchen“ wurde als „Die Kleine aus der Konfektion“ unter anderem mit Reinhold Schünzel verfilmt.
Seine Karriere war nun deutlich ins Rollen gekommen, er las im Rundfunk aus seinen Werken vor, Vortragskünstler bedienten sich seiner Verse, die auch in Lifestyle-Zeitschriften wie Berliner Leben Eingang fanden. Dabei sah er den „Tanz auf dem Vulkan“, der vor allem auch visuell genau in diesen Zeitschriften zelebriert wurde, durchaus kritisch. Sein Gedicht „Schöne Zeiten“ ließ er daher am 2. November 1923 zunächst im expressionistischen Reihungsstil beginnen, der mit seinem schnellen Tempo den schnelllebigen und flirrenden Zeitgeist persiflieren sollte, um dann in einem Atemzug nahtlos in eine Anklage an diejenigen überzugehen, die von den schwierigen Zeitumständen profitierten und sich am Unglück anderer bereicherten: „Hoppla! Lustig! Geigen schwirren! Pfropfen knallen! Schampus fließt! Nackte Schultern, Frauengirren! Heut’ ist heut’! Genießt! Genießt! Jazz-Getöse! Her und rüber tobt das trunkene Getoll, Großverdiener, Wucherer, Schieber schlagen sich die Wänste voll!“
1925 waren seine Tage als Chefredakteur gezählt, er wurde aus unbekannten Gründen abgesetzt. Vor 90 Jahren, am 8. Juni 1928, verstarb Josef Wiener-Braunsberg im Schöneberger Auguste-Viktoria-Krankenhaus an den Folgen eines Hirnschlags. Drei Tage später fand nach der Einäscherung im Wilmersdorfer Krematorium eine bewegende Trauerfeier unter Anwesenheit vieler Freunde, Kollegen und Schauspielgrößen statt. Er hinterließ seine (zweite) Ehefrau Wanda Wiener-Braunsberg geborene Hildebrandt – eine Tochter des Schriftstellers Martin Hildebrandt – und zwei Stiefkinder aus Wandas erster Ehe. Sieben Jahre nach seinem Tod wurden das „Warenhausmädchen“ und „Die Venus von der Tauentzien“ von der Reichsschrifttumskammer als „schädliches und unerwünschtes Schrifttum“ klassifiziert. So zählte er während des Nationalsozialismus zu den verbotenen Autoren und geriet schließlich in Vergessenheit.
Erweiterte Fassung eines Artikels aus neues deutschland vom 8. Juni 2018. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.
Schlagwörter: Bettina Müller, Josef Wiener-Braunsberg, Kurt Tucholsky, Ulk