von Erhard Weinholz
Ab und an unternehme ich kleine oder auch mal größere Ausflüge. Neulich habe ich zum Beispiel wieder einmal die DDR besucht, bei Älteren seit langem schon ein beliebtes Reiseziel. Es war jene DDR, von der sich nur Gutes sagen lässt, wo es Vollbeschäftigung gab und niedrige Mieten, keine Arbeits- und keine Obdachlosen, umfassende Fördermaßnahmen für Frauen und Jugendliche und noch vieles mehr in der Art. Ich konnte dort herumwandern, alles lag seit beinahe dreißig Jahren im Schlaf, die Arbeiter, die Bauern, das Politbüro; sogar die Stasi schlief, aber nur ganz insgeheim – es war wie im Dornröschenschloss, doch war das Land nicht von Hecken, sondern von Stacheldraht umgeben.
Ich muss nun aber sagen: Die Mieten waren in der DDR wirklich nicht hoch: Eine Mark pro Quadratmeter Wohnfläche, Küche zählte nicht. Meine große Einzimmerwohnung im Prenzlauer Berg kostete nur 25 Mark im Monat. Und die habe ich auch gezahlt – obwohl ich gar keinen Mietvertrag hatte: Übers Amt eine Wohnung zu bekommen war so gut wie unmöglich, auch meine Arbeitsstelle, die Akademie der Wissenschaften, hatte mir nichts anbieten können, und so hatte ich schließlich eine besetzt. Mit dem Haus war nicht viel los: undichtes Dach, Außentoiletten, die im Winter einfroren, kaputte Fassaden, aber die Wohnungen selbst waren nicht schlecht. Nicht so wie die feuchtkalten Bruchbuden, die manche junge Frau mit Kind vom Wohnungsamt zugewiesen bekam. In der Märchen-DDR hätten sie es besser gehabt – aber die war wegen Überfüllung ständig geschlossen.
Die Besetzung hatte mir zu meiner ersten eigenen Wohnung verholfen, und aus dem Anlass hatte ich mir etwas gegönnt: ein Radio der oberen Mittelklasse, einen Rema Andante zum Preise von 1320 Mark – zwei Monatsgehälter eines wissenschaftlichen Akademie-Assistenten waren das damals, Ende der Siebziger. Die 25 Mark Miete im Monat konnte ich dagegen locker bezahlen; es profitierten von diesem Mietniveau auch Leute, die noch erheblich mehr verdienten als ich. Für manche Rentner hingegen waren selbst solche geringen Summen schon ein Problem. Die alte Frau K. aus dem Vorderhaus pinnte irgendwann in den Achtzigern bei uns im Dreh Zettel an die Bäume: Verkaufe Porzellan, Bleikristall und so weiter. Wahrscheinlich waren ihre Ersparnisse aufgebraucht. Altersarmut war in der DDR nicht eben selten – in der realen DDR, versteht sich, nicht in dem besagten Märchenland. Andererseits lebten selbst höhere DDR-Funktionäre nicht so sehr viel besser als der gewöhnliche Bürger: Mein Onkel zum Beispiel, Hauptabteilungsleiter im Postministerium, hatte mit Frau und Kind eine Zweieinhalbzimmerwohnung ohne sonderlichen Komfort und fuhr meist mit der S-Bahn ins Ministerium.
Ein höherer Funktionär war es auch, der diese Märchenwelt erschaffen hat; er soll, wie ich hörte, lange Zeit im Ausland tätig gewesen sein. Natürlich sieht man aus der Ferne nicht so genau, was zu Hause passiert, aber wer Märchen erzählen möchte, muss die Wirklichkeit nicht im Detail kennen. Die Arbeitsplätze zum Beispiel waren durchaus nicht märchenhaft sicher: Nachdem ich mir ein paar Mal politischen Eigensinn geleistet hatte, war Schluss mit meiner Arbeit am Akademieinstitut für Wirtschaftswissenschaften. Ich fand sie sowieso unbefriedigend: Die Verhältnisse in der DDR kritisch zu untersuchen war dort unmöglich. Ich hatte deshalb auch nicht vor, mich als Ökonom an der Basis zu bewähren, lieber wurde ich freiberuflicher Übersetzer.
Mein wichtigstes Arbeitsinstrument war nun die Schreibmaschine – schon Ende der Sechziger hatte ich zum Glück eine erstehen können, eine „Erika“ zum Preise von 430 Mark; Arbeiter- und Angestelltenhaushalte verfügten damals im Durchschnitt über etwa 1000 Mark netto im Monat. Es gab dann aber zwei Probleme: Hin und wieder wurde bei uns mal dieses, mal jenes plötzlich Mangelware; zu der Zeit waren es ausgerechnet Farbbänder – ich sah mich, typisch Osten, auf Westhilfe angewiesen. Zudem hatte ich als Übersetzer keine Zulassung. Zwar lebte ich tatsächlich in einem Land ohne Arbeitslose, doch herrschte Arbeitspflicht; wer ihr nicht nachkam, ich hatte von solchen Fällen gehört, galt als Asozialer und landete im Knast. Genau das befürchtete ich. Die DDR war aber einige Zeit zuvor der ILO beigetreten, der Internationalen Arbeitsorganisation, deren Statut Zwangsarbeit nicht zuließ; die Staatliche Versicherung bot freischwebenden Existenzen wie mir nun sogar für fünf Mark im Monat eine Krankenkostenversicherung an. Bei mir musste sie viel zuzahlen: Nicht bloß Arbeitslosigkeit macht krank, der Staat tat es ebenso – monatelang lag ich mit Depressionen im Krankenhaus. Retten könnten mich, so notierte ich damals, nur eine Frau oder die Revolution. Die kam auch, sie kam sogar recht bald, um dem System hier im Lande endlich den finalen Fußtritt zu versetzen.
Ich weiß, ich weiß: Das mag so mancher nicht gern hören. Gerade neulich las ich wieder einmal die Klage, gewisse Historiker versuchten die DDR zu delegitimieren. Doch was hat denn die Herrschaftsform in diesem Lande legitimiert? Letztlich war es das Einverständnis des Volkes oder wenigstens seine Duldsamkeit, und eben dieses Volk war es dann auch, das im Herbst 1989 den sogenannten real existierenden Sozialismus delegitimiert hat. Das heißt nun aber nicht, dass man über ihn jedweden Unsinn erzählen darf. Wer Naziherrschaft wie DDR gleichermaßen dem totalitären Reich der Finsternis zurechnet, von dem sich die Verhältnisse hier und heute dann umso strahlender abheben, versteht nicht, wie im Osten gelebt wurde, was sich dabei im Laufe der Jahre verändert hat und wie es zu eben dieser Revolution hat kommen können.
Es gibt aber beim Umgang mit der Vergangenheit, der einen wie der anderen, auch erstaunliche Gemeinsamkeiten: Vor einigen Jahren war ich bei Freunden meiner Eltern zu Besuch, der Mann, vormals als Lehrer tätig, drückte mir eine umfängliche DDR-Verteidigungsschrift in die Hand. Nach anderthalb Seiten hatte ich genug davon und erzählte ihm als Gegenbeispiel von jenen, die hier einst vom Staat mit miesen Tricks um ihre wertvollen Sammlungen gebracht und oft noch inhaftiert wurden; die Beute verscherbelte man zwecks Linderung der Devisennot in den Westen. Seine Antwort war geradezu klassischer Art, sie lautete: „Das haben wir nicht gewusst!“ Er sagte es aber nicht staunend oder gar erschrocken, sondern eher abwehrend, als sei durch solche Unkenntnis sein wirklichkeitsfernes Geschichtsbild hinreichend gerechtfertigt.
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