von Horst Möller
Bernd Sikora, der aus dem erzgebirgischen Oelsnitz stammende, in Leipzig beheimatete Architekt, Hochschuldozent und Buchautor, erinnert sich im Rückblick auf achtundsiebzig Lebensjahre an den sonntäglichen Besuch bei Familie Wolf am 30. März 1969. Deprimiert habe er das in den 1930er Jahren von Hermann Henselmann im Bauhausstil (mit Walmdach zwar) errichtete Haus in der Fontanestraße in Kleinmachnow verlassen und erst Tage später begriffen, „warum Christa Wolf die Flucht meiner Eltern nach dem Westen offenbar ablehnte und für mich als Zurückgebliebenen zu meiner großen Enttäuschung kein Wort der Anteilnahme oder einen Ratschlag fand. Es ging um das Bekenntnis zum Sozialismus.“
Nun, in „Der geteilte Himmel“ ist der Zweifellast der Zeit erhebliches Gewicht beigemessen: „Die Luft ist schwer von Bekenntnissen, als hänge jetzt vieles davon ab, daß aus dem Innersten der Menschen Wahrheit an den Tag kommt.“ Und dann weiter: „Woher sollten in diesem Land auch die ganzen ehrlichen Leute kommen?“ Die Sikoras hatten ihre sächsische Heimat verlassen, als der mühsam über die Notjahre gebrachte Kohlehandel verstaatlicht werden sollte. In Franken versuchten sie einen Neuanfang. Der Sohn der Familie hatte gerade in Leipzig sein Architekturstudium begonnen. Auf dem eingeschlagenen Weg wollte er vorankommen, selbstbestimmt, auf eigenen Füßen stehen. Nach allem anderen war ihm da zumute als nach unausgereiften Bekenntnissen.
So wortreich diese „Geschichtensammlung“ ist und einzelne Episoden eher beiläufig daherkommen – Tristesse wird da nicht ausgebreitet. Sobald dem frisch gebackenen Architekten bewusst geworden war, dass sein Metier nur arg eingeschränkte gestalterische Möglichkeiten gestattete, sattelte er kurz entschlossen um und wechselte zur Hochschule für Grafik und Buchkunst in die Grafikklasse Prof. Wolfgang Mattheuers. Es handelt sich eigentlich um eine Petitesse, die ihm aber doch erwähnenswert ist, wohl um zu zeigen, was ihn im neuen Tätigkeitsfeld antrieb. Im Umland Leipzigs waren der Braunkohleförderung zahlreiche Siedlungen zum Opfer gefallen. Ein mit viel Grün durchwirkter Ort wie Eythra, jetzt ein Neu-Atlantis, hatte den Dreißigjährigen Krieg, Napoleon und auch den 2. Weltkrieg überstanden. Die Einwohner mussten weichen und erhielten in den Neubauklötzen Leipzig-Grünaus eine neue Unterkunft, durchaus komfortabel, zumindest für diese Jahre. Aber fanden sie dort auch ein Zuhause? Ohne behördlichen Auftrag, aus eigenem Antrieb heraus, hatte sich Bernd Sikora gemeinsam mit einer Grafikerin aufgemacht, das graue Äußere einer Trafostation zu verzieren. Dieser Farbtupfer verströmte gewiss nur sehr entfernt den Charme der Fassadenmalerei wie im dafür berühmten Calvi dell’Umbria, brachte den beiden aber immerhin von Anwohnenden den Titel „unsere Künstler“ ein. Während im einstigen „Schlammhausen“ Gummistiefel die passendste Fußbekleidung waren, trug im Februar 2017 die niederländische Königin dort bei ihrem Erkundungsausflug (um Verlaufsformen von Integration zu ergründen) übrigens silberne Schuhe mit Pfennigabsätzen.
Ausführlich würdigt Bernd Sikora den Leipziger Kunsthistoriker Dr. Peter Guth (1953–2004), seinen langjährigen Partner. Über ihn war 1992 im Spiegel zu lesen: „ein cooler, intellektueller Mann, dem ‚dämliche Betroffenheitsgesten‘ eigentlich nicht liegen“. Er war in der besonders aufgeheizten Atmosphäre der Saalestadt Halle von irgendwelchen Evaluierern zunächst seines Lehramtes an der Burg Giebichenstein enthoben und nach Studentenprotesten dann wiedereingesetzt worden – welch seltener Fall! Sikora schreibt über ihn bar jeglicher Coolness. Auch sonst lässt er mitempfinden, was ihm Erfüllung und Freude oder aber Ärger und Zorn bereitet hat: zum Beispiel die vormals endlosen Mühen zur Durchsetzung seiner Buchprojekte, dann später das Gelingen von Schlüsselwerken zu Architektur- und Stadtgeschichte Leipzigs, speziell zum renommierten Waldstraßenviertel, sowie zur Landesgeschichte Sachsens. Es spricht für Souveränität und Weite des Horizonts – zu ermessen an der Personage unterschiedlichster Couleur mit über 500 Einträgen im Personenverzeichnis –, dass sich Bernd Sikora die Verbindung zur heimatlichen Provinz erhalten hat, was letztlich dazu führte, dass er für seine Geburtsstadt einen Aussichtsturm entwarf, der auf der Halde des Deutschlandschachtes, eines ehemaligen Steinkohlenbergwerks, errichtet wurde. Mit Genugtuung zitiert er die Worte, mit denen der ehemalige Bergmann am 21. November 2000 bei der Einweihung dieses frivolen Fingers dem Architekten dankte: „Mit dem Turm haben sie den Kumpels und mir die Heimat wiedergegeben.“
Vom 36 Meter hohen Rundblick auf 487 m über NHN ergaben sich – symbolträchtig – nun auch Rückblicke. Im August 2003 fährt Bernd Sikora erstmals die kurze Strecke ins Tschechische, nach Kovářská. Im dortigen Heimatmuseum findet er den „Schwarzen Montag über dem Erzgebirge“ dokumentiert. Am 11. September 1944 waren bei einer Luftschlacht am Fichtelberg 33 viermotorige amerikanische Bomber, sogenannte „fliegende Festungen“, von 50 bis 70 deutschen Jagdflugzeugen attackiert worden. Der vierjährige Bernd, genau zu diesem Zeitpunkt in der Umgebung von Oberwiesenthal unterwegs, war mit seiner Mutter Leonore Sikora (ihr sind die Erinnerungen gewidmet) wie durch ein Wunder den aus dem im Tiefflug herandonnernden Monster abgegebenen Gewehr-Salven des feindlichen – seiner Wahrnehmung nach grienenden – Fliegers entkommen. Der Schrecken saß tief.
Brutaler noch hatte sich ein weiteres schreckliches Ereignis eingebrannt. Am 21. April 1945 hatte der Panzer eines amerikanischen Spähtrupps vorm elterlichen Haus haltgemacht, was ein paar Hirnverbrannte wegen angeblichen Fraternisierens zum Denunzieren veranlasste. Am darauffolgenden „Blutsonntag“ waren mehrere Mitglieder der Familie umgekommen. Was Bernd Sikora hier aus längst versunkenen Kindheitstagen nach oben fördert, ist lange Jahre gemeinhin nicht des Erinnerns für notwendig befunden gewesen, ganz offensichtlich zu viele Jahre lang. – Die einst vergeblich im Hause Wolf erhoffte Anteilnahme würde bei einem neuerlichen Besuch ganz sicherlich nicht mehr ausbleiben.
Bernd Sikora: Balanceakte. Ein Leben zwischen Kunst, Architektur und Politik, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2018, 639 Seiten, 30,00 Euro.
Schlagwörter: Bernd Sikora, Christa Wolf, Erinnerungen, Horst Möller, Leipzig, Peter Guth