21. Jahrgang | Nummer 10 | 7. Mai 2018

Wandertag

von Erhard Weinholz

Der März ist eine Zeit des Auf- und Umbruchs: Der Winter weicht, der Pflug bricht die Scholle auf, wendet sie um, das Grün bricht aus den Zweigen. Passend dazu ist er ein Monat der Revolutionen, und er ist auch der Monat von Stalins Tod. Tauwetter und Frühlingsstürme folgten – keine andere Zeit des Jahres hat so zum Wortschatz der Politik beigetragen wie der März.
Aufbruch, das hieß für mich, endlich wieder einmal zu wandern, und zwar, wie es sich im März gehört, gelegentlich im Eiltempo sogar. Doch es war oft regnerisch und kalt, obendrein war ich längere Zeit krank; richtig auf die Beine gekommen bin ich erst im April. Der aber ist nur durch sein Wetter sprichwörtlich geworden; Lenins programmatische Aprilthesen haben es so weit nicht gebracht. Ich musste mir also unterwegs nichts Besonderes mehr abverlangen; ich wäre dazu, wie ich bald merkte, auch gar nicht imstande gewesen. Eine große Tour hatte ich sowieso nicht geplant, wollte von meinem Oberschul-Ort Belzig, heute Bad Belzig, den man von Berlin aus in einer guten Stunde erreicht, nach Borne wandern, wo ich Mitte der Sechziger ein paar Wochen als Landwirtschaftslehrling tätig war, und von dort weiter westwärts nach Wiesenburg, lange Jahre Wohnort meiner Eltern.
Die Sonne schien kräftig an jenem Dienstagmorgen, erst gegen Mittag verschwand sie hin und wieder hinter langsam dahinschwebenden großen, weißen Wolken. Am Wegesrand blühte es blau, gelb und violett, erste Pfauenaugen und Kohlweißlinge taumelten durch die Luft, alles in allem fünf oder sechs nur auf den zwölf Kilometern, und ein paar Hummeln gingen gemächlich ihren Geschäften nach. Aber noch war ich in Belzig, wanderte zur Burg Eisenhardt hinauf und beschaute die Stadt von oben. Das Museum hatte vormittags um halb Zehn noch zu, zum Trost lagen einige Bücher vor seiner Tür. Eines davon nahm ich mit: „Die beliebtesten Schnitzel 45 super Rezepte“. Unterwegs rätselte ich eine Weile, wie man den Beliebtheitsgrad von Schnitzeln ermittelt und ob es auch unbeliebte, vielleicht gar verhasste Schnitzel gebe. Bald fiel mir eines ein: das Jägerschnitzel. Ein Schnitzel mit Pilzen? Von wegen … eine Scheibe Jagdwurst, paniert und gebraten. Beliebt war es nur bei den Küchenchefs: Jagdwurst gab es immer in der DDR, kostete im Großhandel etwa fünf Mark das Kilo, und schnell zubereitet war sie auch – unser Beitrag zur internationalen Billigküche.
So schweiften die Gedanken hin und her, die Natur konnte sie nicht fesseln: Nirgendwo ein schöner Blick in die Ferne, nur reizlose Äcker links und rechts und verbuschte Wälder. Gegen halb Elf, meine Füße sehnten sich schon seit längerem nach Ruhe, kam eine Kirchturmspitze in Sicht, eine halbe Stunde später war Borne erreicht. Zuletzt war ich hier vor beinahe fünfzig Jahren, um beim Bäcker eine Baiser-Torte abzuholen. Ihn gibt es schon seit langem nicht mehr, es gibt überhaupt keinen Laden mehr am Ort.
Zwei Straßen nur führen durch Borne. Nahe der Kreuzung beider steht eine große Villa, in der einst der reichste Bauer hier saß; zur Nazizeit Ortsbauernführer, wurde er im Zuge der Bodenreform enteignet. Die Villa, die damals noch Zinnen im Tudorstil trug, diente fortan als Lehrlingswohnheim; dort wurden alle vier Wochen auch wir Oberschüler einquartiert: Abitur plus Facharbeiterbrief hieß das Ziel. Mein Freund R. und ich mühten uns um Kontakt zu den Mädchen, die nicht von unserer Schule kamen; ansonsten huldigten wir mit Vergnügen der in diesem Lande, wo die Obrigkeit jedermann viel abverlangte, höchst nützlichen Drückebergerei. Ein Buch erinnert mich noch an diese Ausbildungswochen: T. D. Lyssenko „Die Situation in der biologischen Wissenschaft“, Berlin 1951. Im Heim wird es wohl niemand vermisst haben, es dokumentiert eine Sitzung der sowjetischen Landwirtschaftsakademie. Lyssenko als ihr Präsident setzte dabei die Gegner seiner Irrlehre von der Vererbung erworbener Eigenschaften derart unter Druck, dass sie fast alle der Genetik abschworen; nur einer widerstand: der Agrarstatistiker W. S. Nemtschinow. Für mich war das damals eine Einführung in die Methoden des Stalinismus.
Nächste Station: der schon seit langem stillgelegte Bahnhof Borne; einmal wenigstens wollte ich ihn erkunden. Der kürzeste Weg sei der ganz links, erklärte mir jemand aus dem Dorf; fußlahm, wie ich war, schenkte ich ihm gar zu gern Glauben. Wieder bestätigte sich die Regel: Frage nie Einheimische, sie schicken dich garantiert in die Irre. Ich wanderte dann, der Karte folgend, durch schönen, hochstämmigen Kiefernwald, nur waren die Wege oft kaum begehbar, weil zerfahren von schwerem Gerät. Früher hat man im Waldesinneren gefällte Stämme mit Pferden abgeschleppt; das ist vorbei. Mitten im Wald liegt auch der schöne alte Klinkerbau des Bahnhofs; ein Ort der Ruhe, hatte ich gedacht, doch hat sich jenseits der Gleise jemand angesiedelt, und ich wurde ausgiebig von seinen drei Hunden bekläfft. Der Bahnhofsbau wirkt nur vom Zug aus wohlerhalten; hinten beginnt das Dach einzustürzen, innen häufen sich Schutt und Gerümpel. Völlig verschwunden sind die Anlagen des Güterbahnhofs gleich nebenan. Eine kurze Zeit nur spazierte ich auf dem Gelände herum, denn nichts war zu finden im hohen Gras dort, kein alter Pfennig, kein Uniformknopf, nicht einmal ein Stück rotes Laternenglas.
Bis Wiesenburg ging es nun meist über freies Feld. Ich hatte weiten Blick flämingabwärts, doch lief ich lange Zeit in praller Sonne: Von den Apfelbäumen, die in meiner Kindheit am Wegrand standen, sind nur zwei geblieben, wohl hundertzwanzig Jahre alt inzwischen, krumm und verkrüppelt. Manches Mal haben wir an solchen Wegen Fallobst gesammelt, meine Mutter kochte daraus Apfelmus. Ob sich in den neuen Anpflanzungen etwas vom alten Sortenreichtum erhalten hat, war nicht zu erkennen. Im Ort hatte ich nach dem Grab meiner Eltern schauen wollen, aber es war den Füßen zu viel. Immerhin kam ich auf dem Weg zum Bahnhof an unserem einstigen Gartengrundstück vorbei. Das war … nein, ist nach wie vor, denn die Reform hat ja Bestand, Bodenreformland, das man Lehrern zugeteilt hatte. Später ist alles verwildert, war es auch noch, als ich zuletzt daran vorbeikam. Ich hatte das als Beweis für die Schlechtigkeit der Welt anführen wollen, doch wie ich nun sah, ist ein großer Teil der Fläche frisch umgegraben, Beete sind angelegt, einige auch schon bepflanzt.
Mit Müh und Not schaffte ich es bis zum Bahnhof. Das Café, von einem gemeinnützigen Verein betrieben, hatte Ruhetag, ich setzte mich draußen, am Durchgang zu den Bahnsteigen, in den Schatten. Eine alte Holztafel hängt dort; einst muss sie für Aushänge genutzt worden sein, denn es steckten in ihr lange Zeit noch rostige Reißzwecken. Vielleicht hatte man hier auch die großformatige Sonderausgabe des ND vom 6. März 1953 angeheftet: „… teilen der Partei und allen Werktätigen der UdSSR in tiefem Schmerz mit …“
Der Zug fuhr pünktlich, wenig später kam ich am Bahnhof Borne vorbei. Auch anderswo entlang der Strecke stehen Bahnhofsbauten leer und verfallen. In Michendorf hat sich an einem das Schriftfragment „Fünfjah“ erhalten: „Vorwärts zur Erfüllung des Fünfjahrplans!“ war hier einst zu lesen.

Erhard Weinholz liest am 24. Mai um 20 Uhr in der Esmarchstraße 18 (Berlin-Prenzlauer Berg) unter dem Titel „Lokaltermin. Berliner Örtlichkeiten“ eigene Texte. Eintritt frei.