21. Jahrgang | Nummer 11 | 21. Mai 2018

Spurensuche nach Georg Forster

von Wolfgang Brauer

„Ein Morgen war’s, schöner hat ihn schwerlich ein Dichter beschrieben, an welchem wir die Insel Tahiti zwei Meilen vor uns sahen.“ So beginnt Georg Forster seine Beschreibung Tahitis, das er erstmals am 17. Juli 1773 erblickte. Zu diesem Zeitpunkt war er 18 Jahre alt. Forster war mitsamt seinem Vater Reinhold naturwissenschaftlicher Begleiter der zweiten Weltumsegelung James Cooks (1772 bis 1775) an Bord der „Resolution“. Dass die beiden Deutschen überhaupt mitreisen durften, verdankten sie einem Zufall. Der Cook bereits auf seiner ersten Weltreise begleitet habende Sir Joseph Banks stellte maßlose Forderungen an einen Umbau des Schiffes. Man verkrachte sich – und die Forsters waren in London gerade zur Hand. Der junge Mann ging als Zeichner an Bord. „Richtig“ Zeichnen brachte er sich allerdings erst in den langen Wochen der Reise auf dem Weg nach Kapstadt bei. Aber dann sollte er zu einem der großen Erneuerer der naturwissenschaftlichen Zeichnung werden.
Dabei blieb es nicht. Forster wurde in den drei Jahren der Reise an der Seite seines Vaters zu einem bedeutenden Botaniker, in seinen ethnologischen Südsee-Studien praktizierte er eine erstaunlich moderne Sichtweise. Der immer noch paternalistisch-postkolonial geprägte Blick manch heutiger „Völkerkundler“ hätte ihn zutiefst irritiert. Und – last but not least – Georg Forster wurde durch diese Reise zu einem der bedeutendsten deutschen Reiseschriftsteller, bereits von den Zeitgenossen hoch gelobt und heute noch auf eine geradezu erfrischende Weise lesbar.
Dennoch gehörte er über 150 Jahre zu den großen Unbekannten, ja zu den am heftigsten Verfemten und Verleumdeten der deutschen Geschichte. Daran war er selber schuld. Forster nahm seine Schlüsse aus dem von ihm im wahrsten Sinne des Wortes Erfahrenen ernst. Er gehört zu den wenigen deutschen Geistesgrößen, die ihre Ideale nicht in die hinterste Besenkammer der Gelehrtenwohnung stellten, nur weil die Philosophie der Aufklärung plötzlich zum Erschrecken ihrer Professoren „die Massen ergriff“ – und seit dem 14. Juli 1789 in Paris la femme canon das Wort führte und die Carmagnole die Straßen zu beherrschen begann.
Auch wieder durch einen Zufall auf eine gut dotierte Stelle als Oberbibliothekar der Universität Mainz geraten – eigentlich sollte er den wissenschaftlichen Teil einer auf fünf Jahre angelegten russischen Weltumsegelung leiten, das scheiterte 1787 am Russisch-Türkischen Krieg –, wurde Georg Forster zu einem der Wortführer der rheinischen Jakobiner. Um die junge Mainzer Republik vor dem Würgegriff der preußisch-österreichischen Koalitionstruppen zu bewahren (in deren Tross der von Forster hoch verehrte Goethe mitmarschierte), beantragte Forster im März 1793 im Auftrage des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents vor dem Konvent in Paris die Vereinigung der Mainzer Republik mit Frankreich. Am 23. Juli wurde Mainz von den Koalitionstruppen eingenommen. Forster musste in Frankreich bleiben und wurde in seiner Heimat auf lange Zeit zum „Vaterlandsverräter“ und Anhänger eines blutsaufenden Systems abgestempelt. Erst 1958 begann zumindest die DDR-Akademie der Wissenschaften mit der Herausgabe des Forsterschen Gesamtwerkes. Nicht nur die Reisebücher, auch die politischen Schriften, teils in großer Auflage für eine breitere Leserschaft, wurden von Gerhard Steiner vorbildlich betreut. In der Bundesrepublik setzte die Forster-„Renaissance“ genau genommen erst in den 1990er Jahren ein. Große Verdienste haben sich hier Klaus Harpprecht und Frank Vorpahl erworben. Vorpahl, beruflich Fernsehjournalist, folgt seit Jahrzehnten den Spuren Georg Forsters. Die Ergebnisse dieser Suche liegen inzwischen in mehrfacher Form vor. Vorpahl regte 2007 die Neuausgabe des großen Reiseberichtes Georg Forsters an – mit dem der übrigens beim Ersterscheinen 1777 dem Cookschen den Rang ablief –, mit umfangreichen Beigaben der Aquarelle des Autoren in der „Anderen Bibliothek“. 2008 gab er dann bei Eichborn Forsters „Cook, der Entdecker“ heraus. Auch dieser Band war wieder großzügig illustriert – mit Zeichnungen, die der Herausgeber unter anderem in der Staatsbibliothek von New South Wales in Sydney ausgegraben hatte.
Frank Vorpahl beschreibt diese und andere „Fundsachen“ in einem faszinierenden Bericht über seine Spurensuche in Sachen Forster rund um den Erdball in seinem jüngsten Buch „Der Welterkunder“, das jetzt bei Galiani Berlin erschien. In den letzten Jahren las ich selten einen Band derart berauscht quasi in einem Stück weg. Aus der langjährigen Beschäftigung mit Georg Forster und seinem Werk, der Konfrontation des Geschriebenen des späten 18. Jahrhunderts mit dem Gesehenen dieser Tage entsteht ein geistiger Spannungsbogen, der den Leser Welterfahrung sammeln lässt, ohne dass er sich auf den Weg nach Tonga oder Hawaii machen muss. Natürlich macht Vorpahls Bericht Lust auf Reisen, das macht ja schon die Lektüre des Forsterschen Originals…
Allerdings huldigt Vorpahl keinerlei Exotismus. Schon Forster widersprach dem weichgespülten Idealbild der „glücklichen Inseln“, das Antoine de Bougainville beispielsweise von Tahiti zeichnete. Erst recht hielt er das Idol des „Edlen Wilden“, ein Stereotyp der späten Aufklärung, für grundfalsch. Paul Gauguin hätte anstelle Bougainvilles besser Forster lesen sollen – ihm wäre einiges an Enttäuschungen erspart geblieben. Allerdings war das Tahiti der Entdeckungsreisen da schon lange tot – die Kolonialisierung auch des letzten Atolls hatte das vermeintliche pazifische Paradies mit einem Giftschleier überzogen. Vorpahl schreibt: „Georg Forsters Frage, ob die Europäer den Menschen der Südsee Glück brachten, erhielt auf der Osterinsel ihre bitterste Antwort.“ 1877 hatten auf der Insel nur noch 111 Rapanui überlebt. Inzwischen liegt die Bevölkerungszahl wieder bei rund 6000 Menschen. Die Rapanui müssen geahnt haben, das ihnen von den europäischen Seefahrern nur Ungemach droht. Die Mehrzahl – vor allem die Frauen – hielt sich vor Cooks Leuten verborgen. Das wenige Trinkwasser, das Cooks Mannschaft zugänglich gemacht wurde, war kaum genießbar. Der sollte möglichst rasch wieder verschwinden.
Auch die anderen Inseln zahlten einen hohen Preis für ihre „Entdeckung“: Lebten zur Zeit von Forsters Ankunft noch etwa 120.000 Menschen auf Tahiti, so waren es knapp 25 Jahre später nur noch 16.000. Pocken, Scharlach und Typhus rafften die meisten dahin. Frank Vorpahl liefert ähnliche Befunde für die Marquesas: 1920 lebten von einst 70.000 nur noch 2000 Insulaner auf den glücklichen Eilanden der Südsee.
Der Autor beschreibt, wie Forster trotz aller Schwierigkeiten versucht, Einblicke in das Gesellschaftsleben der Polynesier zu gewinnen, wie sich seine sehr eigene Sicht auf die Welt herausbildet: Er versuchte auf dieser Reise die europäische Brille abzulegen und die Menschen der Südhalbkugel in deren eigenem Wertesystem zu verstehen. Genau diese Erfahrungen waren es, schreibt Vorpahl, „die Forster in seiner Überzeugung bestärkte[n], dass die ‚Natur des Menschen spezifisch dieselbe‘ war, dass sich Gedanken und Gefühle, Wünsche und Befürchtungen der Menschen überall auf der Welt glichen“.
Dass sich ein Mann wie Forster gegen jeglichen Rassismus stellen musste, ist da nur zwangsläufig. Auch wenn diese Seuche des intellektuellen Abendlandes eine originäre Ausgeburt der europäischen Aufklärung war und in Immanuel Kant – dessen Aufforderung, den eigenen Verstand zu gebrauchen, hier an ihre Grenzen stieß – einen prominenten Verfechter hatte. Forster hielt der Kantschen Ignoranz, der Forschungsreisen wie die Cookschen für überflüssig, ja schädlich hielt, in „Cook, der Entdecker“ die Auffassung entgegen, dass es keine niederen Menschenrassen gäbe, auch keine „höheren“, sondern nur eine „Einheit des Menschengeschlechts“. Mit welchem Recht eigentlich, fragte Forster mit Blick auf die verheerenden Kriege unseres Kontinents, werfen wir Europäer den Polynesiern ihren tatsächlichen oder vermeintlichen Kannibalismus vor?
Frank Vorpahls Buch bietet Denkanregungen, die auch schmerzlich sind. Das Buch ist mit Leidenschaft geschrieben – und die teilt sich beim Lesen mit. Kleinere Eitelkeiten des Autors und ärgerliche Verdikte gegen die Forster-Rezeption in der DDR überliest man da gerne. Zumal Vorpahl solche polemischen Ausrutscher zum Teil selbst wieder relativiert.

Frank Vorpahl: Der Welterkunder. Auf der Suche nach Georg Forster, Verlag Galliani Berlin, Berlin 2018, 544 Seiten, 32,00 Euro.