von Hermann-Peter Eberlein
Der Altersunterschied beträgt gerade einmal zwanzig Tage: Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 geboren, Jacob Burckhardt am 25. Mai. Der Unterschied indes zwischen den geistigen Welten, die die beiden Denker repräsentieren, könnte größer kaum sein: Marx hat die Weltgeschichte erklärt, mehr noch: hat sie verändert – Burckhardt hat sich darauf beschränkt, sie zu betrachten.
Jacob Burckhardt entstammte dem Basler Daig, dem konservativen Patriziat; sein Vater war der Antistes der Stadt, was einem Kirchenpräsidenten oder Landesbischof heute entspricht. An der heimatlichen Universität begann auch der Sohn mit dem Studium der Theologie, wechselte aber bald nach Berlin und wandte sich der Geschichte, der Philologie und der Kunstgeschichte zu; Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen, Jacob Grimm, vor allem aber der Kunsthistoriker Franz Kugler waren seine Lehrer. Das Sommersemester 1841 verbrachte Burckhardt in Bonn, wo er zum Kreis um den Privatdozenten und späteren Revolutionär Gottfried Kinkel gehörte (Marx hatte von 1835 bis 1836 in Bonn studiert und kehrte just in diesem Sommer 1841 für kurze Zeit dorthin zurück). Im Jahre 1843 wurde Burckhardt in Basel promoviert, ein Jahr später habilitierte er sich und wurde 1845 außerordentlicher Professor. Die folgenden Jahre sehen den jungen Gelehrten an verschiedenen Orten: in Berlin, Basel und immer wieder Italien, wohin er vor der gärenden Stimmung flieht und wo er den Stoff für seinen Cicerone, eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens sammelt. 1855 wird er Professor für Kunstgeschichte am Eidgenössischen Polytechnikum (der heutigen ETH) in Zürich, dann übernimmt er den Lehrstuhl für Geschichte und Kunstgeschichte in seiner Vaterstadt und widmet sich hinfort vor allem dem akademischen Unterricht. Veröffentlicht hat er wenig: neben dem bis heute neu aufgelegten Cicerone Bücher über die Zeit Constantins des Großen und die Renaissance in Italien. Erst aus dem Nachlass und gegen seinen erklärten Willen wurden die vier Bände der Griechischen Kulturgeschichte und – aus Vorlesungsmanuskripten kompiliert – die Weltgeschichtlichen Betrachtungen herausgebracht, das Werk, das dem Basler Lehrer einen Rang unter den bedeutenden Geschichtsdenkern sichert.
Burckardt ist viel geschmäht, maßlos glorifiziert und heftig kritisiert worden. Geschmäht schon zu Lebzeiten ob der weite Horizonte eröffnenden, aber quellenkritisch oft wenig peniblen Art seiner Werke. Glorifiziert als Begründer moderner kulturgeschichtlicher Betrachtung, als Entdecker der epochalen Wende vom späten Mittelalter zum modernen Individuum der Renaissance, schließlich als großer Humanist, der den Geist Goethes und Winckelmanns in einem Jahrhundert zunehmender Vermassung lebendig hält. Kritisiert vor allem jüngst nicht nur wegen seines eben doch einseitigen Bildes der Renaissance, sondern vor allem wegen seines politischen Konservativismus, seiner Demokratiefeindlichkeit, seines Eurozentrismus und seiner – im Rahmen des seinerzeit Üblichen bleibenden – antisemitischen Äußerungen (auch Marx kann man an dieser Stelle ja einiges vorhalten).
Der Antagonismus zwischen dem Trierer und dem Basler Bürgersohn ist sicher einer des Temperaments und des Charakters. Zwar gibt es Gemeinsames: Beide haben in ihrer Jugend poetische Anwandlungen, beide sind Gelehrtennaturen, beide arbeiten als Journalisten – aber wo Marx das Individuum als Teil seiner Klasse aus seiner politischen und ökonomischen Knechtschaft befreien will, zieht sich Burckhardt auf seine innere Freiheit als Individuum zurück. Der Gegensatz zwischen Marx und Burckhardt ist aber noch viel mehr einer des Umgangs mit der vorhandenen Welt, mit der Geschichte. Marx ist Schüler Hegels – das bleibt er, auch wenn er dessen dialektischen Idealismus „vom Kopf auf die Füße stellt“. Der dialektische Materialismus ist ein grandioses Erklärungsmodell der Geschichte mit der Perspektive ihrer Veränderung, im Kommunistischen Manifest klassisch auf den Punkt gebracht: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ – „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ Es geht um soziale, um ökonomische Prozesse. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier, indem er die Natur und damit sich selbst verändert – indem er produziert. Das ist Marx’ Humanismus.
Burckhardt ist alle Geschichtsphilosophie – sei sie idealistisch oder materialistisch – zuwider: Sie „ist ein Kentaur, eine contradictio in adjecto; denn Geschichte, d.h. das Koordinieren, ist Nichtphilosophie und Philosophie, d.h. das Subordinieren ist Nichtgeschichte […] Wir sind aber nicht eingeweiht in die Zwecke der ewigen Weisheit und kennen sie nicht. Dieses kecke Antizipieren eines Weltplanes führt zu Irrtümern, weil es von irrigen Prämissen ausgeht.“ Die irrigen Prämissen hängen am Gedanken fortschreitender Entwicklung, den bereits ein chronologisches Vorgehen suggeriert: Es ist „die Gefahr aller chronologisch angeordneten Geschichtsphilosophien, daß sie […] einen Weltplan zu verfolgen prätendieren und dabei, keiner Voraussetzungslosigkeit fähig, von Ideen gefärbt sind, welche die Philosophen seit dem dritten oder vierten Lebensjahr eingesogen haben.“ Dagegen begnügt sich Burckhardt mit Wahrnehmungen und Querdurchschnitten durch die Geschichte, „und zwar in möglichst vielen Richtungen“ – also mit einer perspektivreichen Anschauung und Betrachtung. Diese Perspektiven – die wir inhaltlich so, wie Burckhardt sie wählt, heute nur noch eingeschränkt anlegen würden – aber haben einen Mittelpunkt: „Unser Ausgangspunkt ist der vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird.“ Der Mensch ist in seiner Natur unveränderlich – dieser Natur gilt es im Anschauen und im Handeln Rechnung zu tragen. Das ist Burckhardts Humanismus.
Wobei dem Betrachtenden eine höhere Seligkeit verheißen ist als dem Handelnden (Vom Glück des Gelehrten hat Thomas Noll seinen schönen Versuch über Jacob Burckhardt mit Recht genannt): „Würde es ein wunderbares Schauspiel, freilich aber nicht für zeitgenössische, irdische Wesen sein, dem Geist der Menschheit erkennend nachzugehen, der über all diesen Erscheinungen schwebend und doch mit allen verflochten, sich eine neue Wohnung baut. Wer hievon eine Ahnung hätte, würde des Glückes und Unglückes völlig vergessen und in lauter Sehnsucht nach dieser Erkenntnis dahinleben.“ Größer kann der Gegensatz zu Marx kaum gedacht werden.
Oder gibt es nicht vielleicht doch etwas, was die beiden Mai-Kinder des Jahres 1818, die sich einst in Bonn in den Zirkeln radikaler Theologen beinahe hätten auf die Füße treten können, verbindet? Würden sie nicht beide heute für die Idee individueller Freiheit stehen, der von rechten Populisten wie von religiösen Fanatikern, von facebook wie von ministeriell besoldeten Gesundheitsaposteln gleichermaßen der Garaus gemacht wird? Würde nicht der Reaktionär Burckhardt, dem künstlerische Kreativität über alles ging, ganz im Sinne von Marx und Engels die spontane Produktivität des Menschen hochhalten gegen ihre Einebnung durch Algorithmen? Würde nicht der Revolutionär Marx, dem in seinem engsten Lebenskreis Geburt und Tod, Liebe und Verrat so nahe waren, ganz konservativ den analogen Menschen, den Menschen als Naturwesen in Schutz nehmen gegen die Ansprüche der digitalisierten Welt? Und wir Nachgeborenen: Können wir sie nebeneinander stehen lassen, Burckhardt und Marx?
Schlagwörter: Geschichtsphilosophie, Hermann-Peter Eberlein, Humanismus, Jacob Burckhardt, Karl Marx, Renaissance