von Manfred Orlick
Für den Historiker oder den historisch Interessierten ist in diesem Jahr der 23. Mai ein besonderer Tag. Vor 400 Jahren wurden an eben diesem Tag durch den Prager Fenstersturz (historisch genauer: durch den zweiten Prager Fenstersturz) zunächst militärische Auseinandersetzungen zwischen den böhmischen Ständen und dem Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ausgelöst, die schließlich zum Dreißigjährigen Krieg eskalierten, an dem die Mächte halb Europas beteiligt waren.
Für einen Naturwissenschaftler, der zudem schon während der Schulzeit Astronomie zu seinen Lieblingsfächern zählte, hat der Mai 1618 noch eine weitere Bedeutung. Bereits 1609 hatte Johannes Kepler (1571–1630), seinerzeit Kaiserlicher Hofmathematiker in Prag, seine beiden ersten Gesetze der Planetenbewegung in dem Werk „Astronomia nova“ veröffentlicht. Kepler konnte dabei auf die umfangreichen und sehr genauen Beobachtungsdaten Tycho Brahes (1546–1601) und dessen Messinstrumente zurückgreifen. Im ersten Keplerschen Gesetz (Ellipsensatz) wies er nach, dass sich die Planeten nicht auf vollkommenen Kreisbahnen, sondern auf elliptischen Bahnen bewegen, in deren einem Brennpunkt die Sonne steht. Das zweite Keplersche Gesetz besagte, dass die Verbindungslinie zwischen Sonne und Planet in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstreicht – folglich bewegt sich ein Planet in Sonnennähe schneller als in Sonnenferne.
Das dritte Gesetz ließ noch knapp zehn Jahre auf sich warten. Inzwischen war Kepler ins protestantische Linz umgesiedelt. Nach eigenem Zeugnis verbrachte er hier die längste und fruchtbarste Zeit (1612–1626) seines ruhelosen Lebens. In Linz entstanden zahlreiche seiner 23 Schriften und Werke astronomischer, mathematischer und philosophischer Art. Seine wissenschaftliche Arbeit musste er allerdings immer wieder unterbrechen, um mit der ganzen Autorität, die er damals schon besaß, seine Mutter Katharina vom Vorwurf der Hexerei zu befreien. Ein Jahr später verstarb sie jedoch, vermutlich an den Folgen der Folter.
Kepler glaubte, dass sich in den Planetenbewegungen Harmonien verbergen. Mit seinem dritten Gesetz konnte er erstmals die exakte Beziehung zwischen der Bahn und der Umlaufzeit eines Planeten um die Sonne herstellen. Dieses Gesetz galt auch für jene Planeten, die erst lange nach seinem Tod entdeckt wurden: Uranus, Neptun und Pluto. Kepler sprach daher bei seinem dritten Gesetz von einem „harmonischen Gesetz“. Er glaubte, dass es eine musikalische Harmonie gibt, die den Schöpfer im Sonnensystem verewige: „Ich fühle mich von einer unaussprechlichen Verzückung ergriffen ob des göttlichen Schauspiels der himmlischen Harmonie: Wir sehen hier, wie Gott gleich einem menschlichen Baumeister, der Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt herangetreten ist.“ Kepler hatte damit den Versuch unternommen, die Harmonie in allen Naturvorgängen aufzuspüren.
Bereits am 8. März 1618 hatte Kepler nach intensivem Studium der Daten zur Umlaufbahn des Mars diesen Schlussstein seiner Planetentheorie im Kopf, sie aber „infolge einer verunglückten Rechnung wieder als falsch verworfen“. Zwei Monate später, am 15. Mai, brachten jedoch wiederholte Prüfungen die Bestätigung seiner Gedanken. Bereits zwei Tage nach dieser Entdeckung übergab Kepler das Manuskript seines Werkes „Harmonices mundi libri V“ („Fünf Bücher zur Harmonik der Welt“) dem Drucker. Das ließ die Vermutung zu, dass die neuen Erkenntnisse schon in seinem bereits abgeschlossenen Manuskript enthalten waren und er es nicht tiefgreifend umarbeiten musste.
Während Kepler seine „Weltharmonik“ in Druck gab, brach sechs Tage später der Dreißigjährige Krieg aus, der Mitteleuropa in eine Katastrophe von ungekanntem Ausmaß stürzte. Trotzdem erschien „Harmonices mundi“ ein Jahr später – „vergeblich hat der Kriegsgott geknirscht, gebrummt und dazwischen gebrüllt“. Knapp ein halbes Jahrhundert später wurde Keplers Gesetz zur Grundlage des Gravitationsgesetzes von Isaac Newton (1643–1727), der es bereits 1666 formulierte, aber erst 1687 in seiner „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“ veröffentlichte.
Die letzten Lebensjahre irrte Kepler ohne festen Wohnsitz umher, meist auf der Suche nach einer wissenschaftlichen Druckerei. In Prag traf er den astrologie-gläubigen Albrecht von Wallenstein, dem er bereits 1608 und 1624 Horoskope erstellt hatte. In dem zweiten Horoskop (Zeitraum bis 1634) hatte er fürchterliche Wirren über das Land vorausgesagt – Wallenstein wurde am 25. Februar 1634 ermordet. Auf dem Regensburger Kurfürstentag 1630 wurde Kepler im November vorstellig, um Gehaltsforderungen geltend zu machen. Der hochgeachtete Astronom wurde aber nicht vorgelassen. Enttäuscht und entkräftet von der langen Reise, starb er am 15. November 1630 in der Stadt an der Donau und wurde auf dem evangelischen St.-Peters-Friedhof außerhalb der Stadtmauer beigesetzt. Sein Grab ging allerdings in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges verloren. Der Friedhof wurde von schwedischen Söldnern verwüstet. Keplers selbstverfasste Grabinschrift blieb jedoch erhalten: „Himmel durchmaß mein Geist, nun meß’ ich die Tiefe der Erde; ward mir vom Himmel der Geist, ruht hier der irdische Leib.“
Schlagwörter: Astronomie, Dreißigjähriger Krieg, Johannes Kepler, Manfred Orlick