von Reinhard Wengierek
Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein traurig-wildes Herz und wehe Lieder für López Cobos…
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„Mitmachen, Arsch retten, brutal sein, misstrauisch und hoffnungslos romantisch. Und niemals heimisch werden. Sobald man es irgendwo kapiert hat, geht es nicht mehr. Sobald es mir zu gut gefällt, kommt die Angst…“ Dann müsse man raus, fort, weiter, schreibt Benjamin von Stuckrad-Barre. Und meint damit nicht nur seine Kinderstube im grün-alternativen „Müsli“-Pastorenhaushalt in Rotenburg/Wümme, sondern seine schon früh ausgebrochene Gier nach Maßlosigkeit, seine auch gegenüber sich selbst rücksichtslosen Egomanien, seine ununterdrückbare Lust am Extremen – größter Glamour, höchster Ruhm, dickste Brieftasche, potenteste Hose. Den dazu passenden Sound lieferte – und das bis heute – Udo Lindenberg. Udo, der neue Gott! Und Ben, der ihn anbetet; bis heute.
Benjamin von Stuckrad-Barre (48), was für ein Kerl vom Ufer der Wümme: Er war Anfang zwanzig, da erschien sein über-cooles Weltschmerzbuch „Soloalbum“ (1998). Ein furioser Bestseller, der den deutschen Literaturbetrieb aufmischte, der ihn in den Ruhm schoss unterm brandneuen Label „Popliterat“. Der ihn feierte als einen Autor, der alles einschließlich sich selbst scharf beobachtet und genau, noch dazu wahnsinnig originell, wahnsinnig witzig beschreibt.
Stuckrad schrieb fortan für große Zeitungen, wurde Gagschreiber für Harald Schmidts Late-Night-Show und – immer mit Hemd, Schlips, schneeweißen Jeans – ein Star der Clubszene zwischen Hamburg und Berlin – Party, Party, Sex und Drogen bis knapp vor Tod. Zynismus, Selbstzerstörung, Schlankheitswahn, Essstörung. Dann raus aus dem System und wieder rein in ein anderes. Etwa in den Dunstkreis des angesagten US-Literaten Bret Easton Ellis – das anlehnungsbedürftige „Herumwuseln in den Aurazonen geistesverwandter VIPs“, bekennt der so Bedürftige selbst.
Was für ein Mix: Der geborene, beständig unter Strom stehende Narziss und der stocknüchterne Reporter seiner grellbunten, der high-hellen wie krank-dunklen Welt zwischen Rausch und Entzug, Auf- und Absturz. Bloß keine Ankunft, kein Bleiben. Dafür die Angst, bei dieser nur mit Doping irgendwie durchzustehenden heißen Hatz womöglich Allerheißestes zu verpassen oder aufzuwachen in kalter Einsamkeit, in eisiger Leere. Oder uncool stecken zu bleiben als Häftling eines Normalo-Alltags. Oder gar durch die letzte Grenze zu knallen und geradewegs in die Hölle zu düsen, die so verführerisch dicht am süßen Wahn des Himmlischen liegt. Benjamin lustvoll im Höhenrausch wie im quälenden Elend. Sein Herz dauerhaft in Panik. Seziert in Stuckrads biografischem Roman „Panikherz“, den – das musste sein! – Oliver Reese als erste eigene Inszenierung als BE-Intendant auf die Bühne warf.
Der erste Eindruck eine Seltenheit: Ein roter Samtvorhang hinterm goldbestucktem Bühnenportal. Weiches helles Rot wie (Herz-)blut, das passt schon mal. Dann der Bühnenboden ausgelegt mit dickem, psychodelisch bemustertem Teppich; schummriges Licht in dessen Schatten – warum so verschattet? – die berühmte Band von Jürgen Gollasch Stimmungen malt zwischen hart und zart. Dazu ramponiert gelbliche Stehlampen, im Hintergrund eine Kuschel-Bar wie eine nostalgische Jukebox, eine – kleiner Scherz – Miniatur-Kopie vom BE-Portikus. Flauschige Stimmung. Atmosphärisch wie etwa im Hamburger „Atlantic“ (der Teppichboden!), Udos ewige Luxus-Herberge und Stuckrads Lifestyle-Vorbild. Oder grüßt das witzige Setting von Hansjörg Hartung womöglich die Edel-Entzugsklinik Hotel Chateau Marmont in LA?
Hübscher Rahmen. Und was passiert? – Ein Musical! Besetzt mit einem Pop-Star der Literatur, einem im Schönen wie Schlimmen auf Wirkung erpichten Selbstdarsteller-Entertainer, durchweht von Popmusik mit durchweg tollen Texten (genau hinhören!). Ist schon mal allerhand, was im 40-Blatt-Skript steckt, das Reese aus 564 Buchseiten extrahierte. Kleiner Einwand: dreißig Minuten raus gestrichen aus den reichlich zwei Stunden entspräche noch besser der kaltschnäuzigen Lakonie des Autors.
Bei dessen Probenbesuch, so die PR-Saga, habe Stuckrad geheult und Regisseur Reese gerührt ein Paar seiner Sneakers vermacht; obendrauf gepinselt ein Panikherzchen. Ja, der obercoole Panik-Poet kann auch Herz-Schmerz-Sentiment. Das lässt Reese ordentlich raus; doch nicht nur das. Deshalb hat er B.S.B. gleich vierfach auf den Teppich und vor die Mikros gesetzt: Nico Holonies, Bettina Hoppe, Laurence Rupp und Carina Zicher stürzen in wahrlich herzzerreißenden Performances vom Reflexiven ins Exzessive, vom Ernüchterten ins Verzweifelte und zurück. Die starken Sarkasmus-Girlanden aus dem Panik-Hirn werden kontrapunktiert mit Udo- und Genesis-Hits. Die tönen fast wie neu, weil Gollasch sie fein verfremdet für seine großartige Band.
Zusammen wirkt alles wie das Aufblättern eines Skizzenbuchs mit signifikanten Momenten aus Stuckrads nimmersattem Dasein, das da zwischen Wümme, Elbe, Spree, zwischen Atlantik und Pazifik so geil wie giftig schäumt. Das immerzu sich nach Liebe sehnt und nach göttlichem Freisein zugleich. Beides zusammen passt nicht in dieses dauer-erregte Verzweiflungs-Herz. Also ein romantisches Sehnsuchts-Musical. Mit dem ganz unromantischen Warnbild, das dahinter schimmert. Und mit dem Wunsch, durchs finale Drogen-Gedröhn hindurch – ganz dicht am Rand zum Orkus – endlich doch noch das wirklich Eigene zu finden, das echte Ich jenseits aller Leerstellen, allem Aufkgeklebtem. Vielleicht das, was womöglich nach Glück klingt, wenigstens einem Stück davon. – Ist doch okay; oder…
Hinweis für Fans – Benjamin von Stuckrad-Barre: Ich glaub, mir geht’s nicht so gut, ich muss mich mal irgendwo hinlegen. Remix 3, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018, 320 Seiten, 20,00 Euro.
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Mit 31 Jahren kam er nach Berlin, um am 30. April 1971 an der Deutschen Oper „La Bohème“ zu dirigieren. Er überzeugte, begeisterte, und eine internationale Karriere begann. Dennoch, die Deutsche Oper behielt Jesús López Cobos stets im Blick. Sie engagierte ihn immer wieder, und 1981 verpflichtete ihn schließlich Opernchef Götz Friedrich als Generalmusikdirektor. Da war López Cobos, der sein Handwerk bei Franco Ferrara und Hans Swarowski in Wien, den beiden wichtigsten Dirigenten der Nachkriegszeit, erlernte, längst Weltklasse. In neun Spielzeiten sorgte er, gemeinsam mit Götz Friedrich, für weltweit strahlenden Glanz und dirigierte ein stilistisch breit gefächertes Repertoire von Offenbach, Meyerbeer, Verdi bis Alban Berg, wobei er sich als souveräner Ermöglicher auch kontroverser szenischer Sichtweisen verstand. Das seinerzeit aufregendste, bis heute nachhallende Ereignis war Friedrichs Inszenierung von Wagners „Ring“.
Nach 1990 wandte sich der im kastilischen Toro 1940 geborene Spanier (erklärtes Vorbild: Bruno Walter) als Chef des Cincinnati Symphony Orchestra und des Kammerorchesters Lausanne zunächst stärker dem sinfonischen Repertoire zu, bevor er 2003 als Musikdirektor ans Teatro Real Madrid wechselte. Zugleich dirigierte er (sein abrufbereites Opernrepertoire umfasste 46 Werke) immer wieder an der ihm sonderlich am Herzen liegenden Wiener Staatsoper sowie der Deutschen Oper; hier zuletzt „Turandot“ und „La Gioconda“.
Am 2. März dieses Jahres starb Jesús López Cobos an einer Krebserkrankung – in Berlin, „der Stadt, die für seine Laufbahn als Mensch und als Musiker die entscheidende Rolle gespielt hat, die ihm Heimat wurde“, so Dietmar Schwarz, Intendant der Deutschen Oper, auf einer berührenden Trauerfeier im Parkettfoyer seines Hauses.
Dominique Meyer, Chef der Wiener Staatsoper, wo Cobos am 8. Januar zum letzten Mal bei „Tosca“ am Pult saß, würdigte seinen Freund López als „eleganten, ernsten, präzisen und vor allem treuen Menschen“. – „Man musste ihn lieben!“ Und: Das ultimative Wort „kein Kompromiss“, das habe er gehasst. Dieser „geduldige Zuhörer“ sei immer offen gewesen für andere Ansichten, habe Meinungsverschiedenheiten im Gespräch gelöst. Branchenübliche Machtspiele seien dem vornehmen Herrn völlig fremd gewesen.
Claudia Schönemann, Vorsitzende des Orchestervorstands, erinnert sich – „wie eigentlich alle im Orchester“ – an einen „warmherzig noblen Gentleman“. Und großen Kümmerer, der sich sonderlich auch für soziale Dinge einsetzte – und obendrein die Orchesterakademie gründete sowie die Kammermusikreihe ins Leben rief.
Das musikalische Programm des innigen Gedenkens war wohl ganz im Geist dieses bedeutenden Künstlers: Puccinis Andante mesto aus „Crisantemi“, Wagners „Siegfriedidyll“, und schließlich – mit GMD Donald Runnicles am Flügel – drei Lieder von Richard Strauss mit Annika Schlicht sowie zwei wehe „Lieder des Abschieds“ von Korngold mit Irene Roberts. – „… doch im Tiefsten fühle ich das Herz, das sich muss trennen.“
Schlagwörter: Benjamin von Stuckrad-Barre, Berliner Ensemble, Deutsche Oper Berlin, Jesús López Cobos, Oliver Reese, Reinhard Wengierek