von Frank Preiß
Ach ja, die Russen! Ach ja, die Polen! Je nachdem, auf welcher Seite von Neman und Bug man sich umhört, ist vom, gelinde ausgedrückt, schwierigen Nachbarn die Rede.
Dabei kommt man unweigerlich auf Katyn zu sprechen. Der kleine Ort in der Nähe von Smolensk wird von den einen zum prägenden Symbol des Umgangs miteinander verklärt, während auf russischer Seite bisweilen der Eindruck entsteht, man wolle den Kontext des Diskurses neu fassen. Manche meinen, man konstruiere gar ein „Anti-Katyn“.
Hier die allgemein bekannten und unstrittigen Fakten: Nachdem die Rote Armee im September 1939 jene Gebiete Belorusslands und der Ukraine weitgehend kampflos besetzt hatte, die nach dem Rigaer Frieden 1921 an Polen gefallen waren, wurden etwa 454.000 polnische Kriegsgefangene gemacht. In Polen werden diese jedoch teilweise nicht als Kriegsgefangene betrachtet, da es im September 1939 keinen Krieg mit der UdSSR gegeben habe.
Unter diesen Gefangenen machte das NKWD alle Personen aus, die als höhere Offiziere, Polizeiangehörige oder Geheimdienstmitarbeiter besonders verdächtig erschienen. Gleichzeitig erfolgte in den besetzten Gebieten die Verhaftung von Personen, die man a priori als „antisowjetisch“ einstufte. Das betraf vor allem höhere Reserveoffiziere, Beamte, Hochschullehrer und andere exponierte Intellektuelle sowie leitende Mitarbeiter der polnischen Justiz- und Sicherheitsorgane und nicht zuletzt Großgrund- und Fabrikbesitzer. Damit folgten die sowjetischen Sicherheitsorgane strikt dem damaligen sowjetischen Dogma, alle „sozial feindlichen Kräfte“ zu bekämpfen.
Während man die aus den besetzten Gebieten stammenden einfachen Militärangehörigen umgehend nach Hause schickte, wurden einige zehntausend Personen vom NKWD interniert und in spezielle Gefangenenlager verbracht.
Der Vormarsch der Roten Armee nach Polen war mit dem faschistischen Deutschland im teilweise geheimen „Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrag“ (oft als „Molotow-Rippentrop-Pakt“ oder „Hitler- Stalin-Pakt“ bezeichnet) abgestimmt worden und erfolgte, nachdem die polnischen Streitkräfte von der deutsch-faschistischen Armee fast vollständig militärisch geschlagen worden waren und die polnische Regierung das Land verlassen hatte.
Allen Akteuren war klar, dass die sowjetische Führung damit einen seit spätestens Ende der 1930er Jahre als prioritär eingestuften Plan der Revision der sicherheitspolitischen und geographischen Lage in der Region umsetzen wollte. Moskau war es bis dato nicht gelungen, eine vermeintlich günstigere Ausgangsposition für den, früher oder später, als unausweichlich angesehenen Krieg mit Hitlerdeutschland auf diplomatischem Weg zu erreichen. Alle Versuche, auch mit Polen zu einer Lösung zu kommen, scheiterten. Und das war beileibe nicht nur die Schuld der „Moskowiter“. Unüberwindlich waren das gegenseitige Misstrauen und unübersehbar die Fülle beidseitiger feindlicher Handlungen sowie tiefgreifender ideologischer Gegensätze.
Es darf nicht vergessen werden, dass man in Moskau den Rigaer Vertrag vom 18. März 1921 bereits kurz nach dessen Abschluss mit Skepsis betrachtete. Sowjetrussland musste nicht nur einige Millionen Goldzloty als Reparation bezahlen, sondern auch große Gebiete abtreten, die nach dem Beschluss des Obersten Rates der Alliierten vom 8. Dezember 1919 eigentlich an Sowjetrussland fallen sollten („Curzon-Linie“).
Die Herrschaft Polens in diesen Gebieten in der Zwischenkriegszeit war für die mehrheitlich nichtpolnische Bevölkerung alles andere als segensreich. Polnische antisowjetische Aktivitäten beim östlichen Nachbarn gehörten, vor allem in den 1920er Jahren, ebenso zum Alltag.
Die oben genannten als besonders antisowjetisch betrachteten polnischen Gefangenen wurden 1939/40 vor allem in Lagern unweit von Smolensk (Koselsk), Kalinin (Ostaschkow) und Charkow (Starobelski) gefangen gehalten. Im April 1940 wurden jene, die sich offensichtlich einer Zusammenarbeit mit den Sowjets verweigerten oder feindlicher Handlungen gegen die UdSSR verdächtig waren, vom NKWD erschossen. Das erfolgte weder auf Grund von Gerichtsurteilen noch gab es dafür andere rechtliche Grundlagen. Ausschließlich das wenige Personen umfassende Politbüro der Kommunistischen Partei der Sowjetunion hatte den entsprechenden Vorschlag des NKWD-Chefs Lawrentij Berija gebilligt.
Gegenwärtig spricht man in Russland von etwa 22.000 Personen, die der unmittelbaren Aktion zum Opfer fielen.
Natürlich erfolgte die Durchführung der Mordaktion bei strengster Geheimhaltung. Außerdem wurden die Spuren sehr sorgfältig verwischt.
Es ist bekannt und wurde oftmals beschrieben, wie die sowjetischer Seite später versuchte, die Taten dem deutsch-faschistischen Aggressor anzulasten und welche weitreichenden politischen Folgen das für die russisch-polnischen und internationalen Beziehungen bis heute hat.
Die genannten Versuche wurden bereits beim Nürnberger Prozess 1947 abgewiesen. Die im Juli 1946 dem internationalen Tribunal von sowjetischer Seite dazu vorgelegten „Beweise“ konnten das Gericht nicht überzeugen. Dieser Anklagepunkt wurde daher fallengelassen.
Als Michail Gorbatschow schließlich am 13. April 1990 dem polnischen Präsident Wojzech Jaruzelski eine Reihe wichtiger, bis dato streng geheimer Archivunterlagen zum Schicksal der polnischen Gefangenen übergab, schien es, als ob das Eis gebrochen sei.
Die Situation schien sich zu entspannen, als Präsident Boris Jelzin 1993 bei seinem Staatsbesuch in Warschau auf dem dortigen Militärfriedhof Powązki einen Kranz mit der Aufschrift „Katyn 1940“ niederlegte. Die polnischen Medien zeigten am 26. August 1993 einen russischen Präsidenten, der zudem die Kranzschleife küsste! Einige Quellen vermeldeten, Boris Jelzin habe dabei „verzeiht uns“ gesagt.
Trotzdem und für viele damals unverständlich, kam es nicht zu einem Tauwetter in den gegenseitigen Beziehungen. Daran änderten auch die Bemühungen der russischen und polnischen Präsidenten Wladimir Putin und Aleksander Kwaśniewski nichts, die zwischen 2000 und 2002 erhebliche Anstrengungen zur Entspannung und Annäherung unternahmen. Spätestens 2004, als die „Vereinigung der Angehörigen der Opfer von Katyn“ mit einer erneuten Kampagne hervortrat, wurde vielen bis dahin noch optimistischen Beobachtern klar, dass es keine kurzfristige, rationale, beiderseits zufriedenstellende Lösung geben würde. Aus einem historischen Ereignis war endgültig ein politisches geworden, zudem mit parareligiösem Anstrich. Schließlich meinten viele Russen, man wolle in Warschau alle gutgemeinten Gesten und Bemühungen einfach nicht verstehen. Wie sonst sei zu erklären, dass man in Polen sämtliche Konflikte der Vergangenheit – bis hin zu Jahrhunderte zurückliegenden, teilweise unbedeutenden Episoden – zu aktuell wichtigen politischen Ereignissen hochstilisiere? Die Ereignisse würden zudem so uminterpretiert, dass der Russe stets der Bösewicht sei. Auch in Russland kochten die Emotionen hoch und die Argumentation glitt zum Teil ins Unsachliche ab. Zum Glück waren und sind derartige Ausfälle weder die Regel noch wurden und werden sie bislang staatlicherseits hofiert und instrumentalisiert.
Es scheint heute so, dass Polen für Russlands Führung einen geringen Stellenwert als während der ersten Präsidentschaft Putins (2000–2004) einnimmt. Bereits bei einer Umfrage im Jahr 2005 hatte sich die Mehrzahl der Befragten dafür ausgesprochen, dass die polnischen Forderungen und Anwürfe einfach zu ignorieren, da diese nicht nur sehr lange zurücklägen, sondern auch einseitig seien.
Dabei wird in Russland immer wieder darauf verwiesen, dass man über Katyn nicht sprechen könne, ohne den polnisch-sowjetischen Krieg von 1920 zu erwähnen, der für manche Autoren (wie zum Beispiel Alexander Schirokorad) fast schon eine Vorwegnahme des Einmarschs der Roten Armee von 1940 – nur mit anderen Vorzeichen – gewesen sei. Nach der Niederlage der roten Truppen unter Michail Tuchatschewski, Joseph Stalin und Semjon Budjonny im Sommer 1920 kamen zehntausende gefangene Rotarmisten in den polnischen Lagern um. In Russland geht man von 60.000 bis 80.000 Toten aus. Vom dort herrschenden Terror seien neben „Roten“ auch „Weißgardisten“ betroffen gewesen. Dieses ganze Kapitel wird in Polen freilich heftig bestritten oder „beschwiegen“. Die Zahlen seien weitaus überhöht, und es hätte sich um Tote infolge von Krankheiten und der allgemein schlechten Lebensumstände gehandelt.
Während Autoren in Russland, die eher „liberalen“, „prowestlichen“ Auffassungen anhängen (so Mark Solonin) die russischen Einwände eher als „Antikatyndiskussion“ verstehen, bilden die „Revanchetheoretiker“ offenbar die Mehrzahl (Alexander Schirokorad, Walerij Ross, Ludmilla Gondarowa, Michail Meltjuchow). Freilich sind wenige so offen und unverblümt wie der Chefredakteur des Verlags „Waffen und Technologie“, Nikolai Spasskij, der im „Militär-Industrie-Kurier“, Ausgabe vom 4. Februar 2009, schrieb: „Die Wurzeln des Problems liegen im Genozid an den gefangenen Rotarmisten im Jahr 1920 und der wirklich Schuldige an der Tragödie von Katyn war die polnische Führung unter Józef Piłsudski.“
Neben dem publizistischen Schlagabtausch gibt es auch eine umfangreiche juristische Auseinandersetzung. Angehörige der Opfer von Katyn und der anderen Lager scheiterten 2008 mit ihrer Klage vor einem Moskauer Zivilgericht. Es ging um die Kassation der Ablehnung der politischen Rehabilitation der Ermordeten durch die russische Militärstaatsanwaltschaft. Kurz darauf wandte sich ein Teil der Kläger an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Nach langwierigen Verhandlungen entschied dieser am 21.10.2013 abschließend, Russland sei vom Vorwurf entlastet, durch unterlassene Verfolgung der kommunistischen Morde von Katyn im Jahr 1940 die Rechte der Opfer und ihrer Angehörigen verletzt zu haben. Allerdings stellte die Große Kammer in Straßburg fest, dass Russland pflichtwidrig versäumt habe, dem Gericht alle nötigen Dokumente zur Verfügung zu stellen. Mit dem Urteil zerstob die Hoffnung gewisser politischer Kreise in Polen, endlich den juristischen Ritterschlag für weiterreichende Vorwürfe und Forderungen an Russland zu erhalten. Der EGMR stufte die Ereignisse von 1940 weder als Genozid noch als Kriegsverbrechen ein. Auch die von den Klägern vorgebrachten umfangreichen finanziellen Forderungen erwiesen sich bislang als nicht durchsetzbar.
Im Jahre 2010 kam es wieder zu einer Verbesserung der Beziehungen. Die Idee der Einrichtung von Zentren des Dialoges und der Verständigung in Moskau und Warschau fand die Unterstützung der Präsidenten Wladimir Putin und Donald Tusk. Als beide am 07. April 2010 in Katyn gemeinsam Kränze für die polnischen und sowjetischen Opfer der Gewalt niederlegten, schienen die Signale erneut auf Entspannung zu stehen. Wladimir Putin erklärte, dass es kein Zurück gäbe bei der klaren Verurteilung der Taten des totalitären Regimes. Es sei aber anderseits für Russland unannehmbar, diese Taten dem russischen Volk anzulasten. Geschichte, die mit Hass und Bosheit im politischen Interesse bestimmter Personen und Gruppen geschrieben werde, erweise sich als entstellt und falsch. Er glaube, dass man das sowohl in Russland als auch in Polen zunehmend begreife. Wie schwer es auch sei, man müsse aufeinander zugehen. Man müsse sich erinnern, aber auch verstehen, dass man allein von der Vergangenheit nicht leben könne.
Der Regisseur des Filmes „Katyn“, Andrzej Wajda, dessen Vater 1940 zu den Opfern gehört, erklärte, er sei froh und den Russen für die Fortschritte dankbar.
Das konnte man von einem Teil der polnischen Eliten freilich nicht sagen. Diese begannen, die „Schuld Russlands“ nunmehr weiter zu fassen. Schließlich sei auch die Befreiung Polens 1944/45 letztendlich der Beginn einer langjährigen Okkupation Polens durch die Sowjets gewesen.
In Russland hatte man schnell begriffen, woher der Wind wehte, und die Alarmsirenen schrillten. Es ging nunmehr aus Moskauer Sicht um die Revision der Ergebnisse des Zweiten Weltkrieges vermittels der Negierung der Befreierrolle der Roten Armee.
Aber noch schien alles lediglich ein kurzzeitiges Rumoren aus der Gruft der Ewiggestrigen zu sein. Eine Zäsur brachte dann der 10. April 2010. An diesem Tag stürzte das Flugzeug des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński beim Landeanflug in der Nähe von Smolensk ab. Alle an Bord der Maschine befindlichen 96 Menschen kamen dabei ums Leben. Der Präsident und seine zum Teil hochrangigen Begleiter waren auf dem Weg zu den Gedenkfeiern anlässlich des 70. Jahrestages der Erschießung der polnischen Gefangenen.
Im Jahr 2011 wurde im offiziellen Untersuchungsbericht die fehlerhafte Entscheidung der Flugzeugbesatzung, bei Schlechtwetter anstatt auf einem Ausweichflugplatz in Smolensk zu landen, als Ursache der Tragödie festgestellt. Obwohl seither keinerlei begründete Zweifel an dieser Aussage bestehen, entfachte sich in Polen danach eine Kampagne von antirussischen Verschwörungstheorien, die bis in die Gegenwart andauert.
Die seit den Wahlen von 2015 in Polen fast unangefochten regierende Partei „Prawo i Sprawiedliwość“ (Recht und Gerechtigkeit/PiS), deren Gründer die Zwillingsbrüder Lech und Jarosław Kaczyński waren, lässt kaum Bemühungen erkennen, die Beziehungen zu Russland zu verbessern.
Dass diese Partei auf Grund ihrer „national-konservativen“ und teilweise offen antieuropäischen Positionen auch für viele EU-Mitglieder zum sehr schwierigen Partner geworden ist, verfolgt man in Russland mit großem Interesse. Dort war man in früheren Jahren augenscheinlich durchaus froh darüber, dass Polen in internationale Strukturen eingebunden ist, die seinerzeit einen sachlicheren Umgang miteinander ermöglichten. Allerdings sind die ehemalige sicherheitspolitische Partnerschaft Russlands mit der NATO und das breitgefächerten Geflecht gegenseitiger Beziehungen zur EU seit 2014 zunehmend erodiert. Die polnische Führung hat seither mit großem Eifer die Rolle der antirussischen Speerspitze im Westen übernommen und irritiert damit auch jene westeuropäischen Verbündeten, die eine Entspannung der Situation präferieren.
Mitunter erscheint es in letzter Zeit, als habe man sich in Moskau damit abgefunden, einen feindselig gesonnenen Nachbarn zu haben.
Hat die Russophobie aber tatsächlich alle Polen erfasst? Sicher nicht. Als Beispiel dafür wird in Russland Philosoph und Politikwissenschaftler Bronislaw Lagowski genannt. Dieser hatte zu Katyn geschrieben: „Was ist schlimmer? Das von einer bedrohlichen Macht erzwungene politisch motivierte Schweigen über das Verbrechen von Katyn oder dessen ständige Erwähnung ebenfalls aus politischen Motiven? Man transformiert eine reale Tragödie zum Schreckgespenst für Schüler, zum Kinothriller, zum Thema von Wahl-Kampagnen, um daraus Nutzen für den propagandistischen Kampf gegen den Nachbarn zu ziehen.“
Frank Preiß, Jahrgang 1957, war nach Offiziersausbildung bis 1986 im Truppendienst der NVA und studierte anschließend bis 1990 Philosophie an der Militärakademie „Lenin“ in Moskau. Danach bis 2018 Erwerbstätigkeit im Angestelltenstatus in der Wirtschaft – mit regelmäßige Geschäfts- und Studienreisen nach Russland und in Nachfolgestaaten der UdSSR. Der Autor lebt bei Halle an der Saale.
Schlagwörter: Frank Preiß, Katyn, Polen, Russland