21. Jahrgang | Sonderausgabe | 30. April 2018

„Ein Gespenst geht um …“

von Mathias Iven

Nach den gewichtigen, bereits im vorigen Jahr erschienenen Marx-Biographien von Gareth Stedman Jones (siehe dazu auch den Beitrag von Kornelia Hauser in dieser Ausgabedie Redaktion) und Jürgen Neffe legen die Verlage anlässlich des Marx-Jubiläums jetzt mit zahlreichen Neuerscheinungen nach …
Mitte Oktober 1843 kam Karl Marx nach Paris. Nach dem im Frühjahr verhängten Verbot der Rheinischen Zeitung hatte seine journalistische Karriere ihr vorläufiges Ende gefunden. Der in der französischen Hauptstadt lebende Publizist Arnold Ruge, mit dem Marx seit einiger Zeit in Kontakt stand, hatte ihm daraufhin die Mitarbeit an einer neu zu gründenden Zeitschrift vorgeschlagen. Nach monatelangen brieflichen Verhandlungen über die inhaltliche Ausrichtung des Blattes entschloss sich Marx zur Emigration.
Marx und Ruge machten sich sofort an die Arbeit. Die Suche nach geeigneten Beiträgen gestaltete sich jedoch schwieriger als gedacht. Es kam immer wieder zu Missverständnissen, die vor allem der wechselseitigen Unkenntnis der deutschen und der französischen Situation geschuldet waren. So waren die Deutschen entsetzt darüber, dass ein Großteil der Franzosen den Sozialismus religiös begründete. Den Franzosen hingegen war die atheistische Haltung und das fast grenzenlose Selbstbewusstsein der Deutschen suspekt. – Im Sommer 1844 wurde die erste und zugleich letzte Nummer der Deutsch-Französischen Jahrbücher ausgeliefert. Ein Projekt war gescheitert.
Kurz zuvor war das Pariser Wochenmagazin Vorwärts! gegründet worden, für das Marx in den nächsten Monaten Artikel schrieb. Seine kritischen Beiträge gaben dem Blatt eine vollkommen andere Ausrichtung, weg von einem politisch-orientierten Theaterblatt hin zu einer kommunistischen Zeitschrift. Mehrmals intervenierte daraufhin der preußische Gesandte beim französischen Außenministerium und drang auf ein Verbot der Zeitung. Am Ende kam es zwar nur zu Entlassungen, doch die Betroffenen wurden zugleich des Landes verwiesen. Am 2. Februar 1845 bestieg Marx die Postkutsche nach Brüssel. Hier sollte er all die Überlegungen schriftlich fixieren, zu denen er in den vorangegangenen Monaten gelangt war.
War Paris tatsächlich eine der entscheidenden Lebensstationen für Karl Marx? Dieser Frage geht der Politikwissenschaftler und Historiker Jan Gerber in seiner fundierten, das Zeitkolorit widerspiegelnden und glänzend geschriebenen Studie nach. Interessant ist dabei sein Ausgangspunkt: „In diesem Buch sollen die Diskussionen der Exilzeit, die wegen des aufziehenden Kalten Krieges beendet wurden, wieder aufgegriffen werden.“ Gemeint ist die von Friedrich Pollock im Dezember 1941 in den Raum gestellte Feststellung, dass in den Marx’schen Begriffen etwas nicht „stimmt“.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang die im Marxismus zu einer Einheit verschmolzenen Begriffe „Klasse“, „Revolution“ und „Geschichte“. Gerber stellt eine Reihe von Fragen, deren Beantwortung klären soll, was an diesen Begrifflichkeiten nicht „stimmt“: „Wie kam Marx auf die Idee, dass die Geschichte, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, die ,Geschichte von Klassenkämpfen‘ sei? Warum glaubte er, dass die historische Entwicklung mit geradezu naturgesetzlicher Dynamik auf eine ,Gesellschaft der Freien und Gleichen‘ zusteuere? Und aus welchem Grund ernannte er ausgerechnet das Proletariat, sprich: die moderne Industriearbeiterschaft, zum revolutionären Subjekt?“
Eine Antwort auf all das gibt Marx’ erster Paris-Aufenthalt. „Denn seine Hinwendung zum Klassenkampf, zum Kommunismus und zum Proletariat lässt sich“, so Gerber, „exakt auf diese 15 Monate in der Seine-Metropole datieren.“ Nicht zu vernachlässigen ist im Übrigen die Begegnung mit Friedrich Engels im August 1844. In dieser sich als „eine Art Symbiose“ entwickelnden Verbindung lieferte Marx „dem ,Historischen Materialismus‘ die Philosophie, Engels die Empirie“.
Gerbers Rekonstruktion von Marx’ ersten Paris-Aufenthalt wird dem selbst gesetzten Anspruch, „ein ins Historische verlegter Kommentar zum gegenwärtigen Marx-Boom“ zu sein, durchaus gerecht. Am Ende steht für ihn die Schlussfolgerung: „Die Rede von der Klasse und ihrem Kampf versagte schon vor der Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts. Wie soll sie dann der noch komplizierteren Situation des neuen Jahrtausends gerecht werden?“ Aus diesem Grund empfiehlt er hin und wieder einen Blick in Marx’ Hauptwerk, denn es „gibt kein Buch, in dem die bürgerliche Produktionsweise so sorgfältig seziert wird wie im Kapital“.
Jan Gerber: Karl Marx in Paris. Die Entdeckung des Kommunismus, Piper Verlag, München 2018, 239 Seiten, 22,00 Euro.

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Ein Jahr vor seinem Tod brach Karl Marx zu seiner letzten großen Reise auf. Grund war seine immer schlechter werdende Gesundheit. Insgesamt acht Monate war er unterwegs – nicht gerade ein kurzer Ausflug, doch meist wird diese Zeit von den Biographen ausgeblendet oder nur am Rande behandelt. Erst 1995 legte Marlene Vesper mit ihrem Buch Marx in Algier eine umfassende Dokumentation dieses Lebensabschnitts vor.
Uwe Wittstock, langjähriger Literaturredakteur der F.A.Z. und des Focus, hat das bereits Bekannte gesichtet, bisher unbekannte Dokumente erschlossen und das Ganze zu einer Darstellung erweitert, die Reisebericht und Biographie in Einem ist. Der Autor liefert außerdem eine kurzgefasste Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts und skizziert anhand von Manifest und Kapital die Entwicklung der Marx’schen Theorie. All das geschieht mit einer Leichtigkeit, die die Lektüre zu einem außergewöhnlichen, fast romanhaften Genuss macht.
Und was geschah nun auf dieser Reise? Am 18. Februar 1882 ging Marx in Marseille an Bord der „Said“, zwei Tage später legte das Schiff in Algier an. Charles Stéphann, der Arzt, der sich in den kommenden Wochen um ihn kümmern sollte, diagnostizierte eine Rippenfellentzündung. Er verordnete Ruhe, Lesen nur zur Zerstreuung und kleine Spaziergänge. Marx, so Wittstock, „fühlte sich wie Don Quixote auf der letzten Etappe seiner Abenteuerreise“. Er war zerstreut, unkonzentriert, gedankenverloren, „ein Gefangener seiner Krankheit“. Das Kapital, sein Hauptwerk, sollte demnächst in dritter Auflage erscheinen. Die Korrekturbögen hatte er eingepackt, doch er rührte sie nicht an. „Nur Erinnerungen beschäftigten ihn.“ Mehr und mehr erwies sich die Reise als Fiasko. – Nach zehn Wochen verließ Marx Algier. Am Abend des 2. Mai legte die „Peluse“ ab, über Marseille und Nizza reiste er nach Monte Carlo. Weiter ging es über Cannes nach Argenteuil zu seiner Tochter Jenny. Schließlich, nachdem auch ein vierwöchiger Aufenthalt in der Schweiz keine gesundheitliche Besserung gebracht hatte, kehrte er Anfang Oktober 1882 nach London zurück.
Im Epilog seines Buches geht Wittstock der titelgebenden Frage nach, was wohl der Grund für Marx’ Besuch beim Barbier während seines Aufenthaltes in Algier gewesen ist. Scheint dieser „für ihn doch bedeutungsvoller gewesen zu sein, als er bewusst oder unbewusst den Anschein erwecken wollte“. Die eher beiläufige, aus einem Brief an Engels vom 28. April 1882 stammende Mitteilung, Marx habe „den Prophetenbart und die Kopfperücke weggeräumt“, deutet Wittstock als „das heimliche, vielleicht sogar vor sich selbst verheimlichte Eingeständnis […], sich nicht mehr als Propheten zu betrachten, da die eigenen Zweifel an seinen politischen Prognosen zu groß geworden waren“. Zieht man zudem in Betracht, dass Marx sich vor und nicht nach dem Barbierbesuch noch einmal fotografieren ließ, ließe sich in dieser Handlung „ein geradezu mustergültiges Beispiel emotionaler Ambivalenz erkennen: das Selbstbild sowohl gewissenhaft konservieren als auch tiefgreifend verändern zu wollen“.
Uwe Wittstock: Karl Marx beim Barbier. Leben und letzte Reise eines deutschen Revolutionärs, Karl Blessing Verlag, München 2018, 288 Seiten, 20,00 Euro.

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„Interpretieren, um zu verändern“ – Kurt Bayertz, Seniorprofessor an der Universität Münster, hat den Titel seiner theoretischen Untersuchung in Anlehnung an die 11. Feuerbach-These gewählt. Selbst nach mehr als einhundert Jahren Rezeptionsgeschichte sind wir, so Bayertz, „von einem adäquaten Verständnis“ der Marx’schen Theorie noch weit entfernt. „Vor allem dort, wo es um ihre philosophischen Grundlagen geht.“ Doch gerade sie sind es, die sein gesamtes Werk inklusive der ökonomischen Schriften prägen. Schließlich bleiben auch die von Marx formulierten politischen Ziele ohne das Wissen um die philosophischen Voraussetzungen unverständlich. „Denn die Marxsche Theorie“, so stellt Bayertz fest, „war von Beginn an mit einem revolutionären politischen Programm verknüpft, das die Rezipienten vor die Alternative stellte, dafür oder dagegen zu sein. Den Interpreten blieb unter diesen Bedingungen meist nur die Aufgabe, entweder die Wahrheit oder die Falschheit der Theorie zu beweisen; was sie genau besagte, wurde zu einer Nebenfrage.“ Diese Nebenfrage wird bei Bayertz zur Hauptfrage. Sein Buch ist „ein Versuch, Marx zu verstehen“. Dabei folgt er „dem Prinzip der wohlwollenden Interpretation“, das heißt: „Die Marxsche Theorie soll so stark gemacht werden wie möglich – aber nicht stärker. Wohlwollen zeigt sich nicht darin, dass man Unklarheiten und Inkonsistenzen kaschiert.“
Es mag sein, wie Bayertz eingangs erklärt, dass die einschlägigen Selbstzeugnisse zwar spärlich, aber darum nicht weniger eindeutig sind: „Dementsprechend steht auch für den Mainstream der Forschung fest, dass Marx Materialist war.“ Sein Übergang zum Materialismus war eng verknüpft „mit dem Versuch zur Lösung des Theorie-Praxis-Problems“. Zugleich gab es „die Furcht der Einsicht, dass die Verhältnisse, die es praktisch zu verändern galt, nicht bloß in und aus Gedanken bestehen, dass sie vielmehr wirkliche, materielle Verhältnisse waren, die nur durch wirkliches, materielles Handeln überwunden werden konnten. Der Übergang zum Materialismus war also Ausdruck eines Gewinns an politischem Realismus.“
Zahlreiche Interpreten haben die Theorie von Marx auf die These verkürzt, „dass alles irgendwie von der Wirtschaft abhängt“ – was ja nicht unbedingt falsch ist. Allerdings kann man bei solcherart Deutung nicht erkennen, „worin die philosophische Relevanz einer solchen Theorie bestehen könnte“. Bayertz resümiert, dass Marx seine Agenda auf zwei, eine Einheit bildende Fragen konzentriert hatte: „Wie sind Gesellschaft und Geschichte theoretisch aufzufassen und wie können sie praktisch verändert werden?“ Denn schließlich wollte Marx sowohl die soziale als auch die geschichtliche Welt neu interpretieren, um sie zu verändern.
Die 8. Feuerbach-These besagt: „Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis.“ Es kommt somit, wie es der nicht-naturalistische Materialismus à la Marx lehrt, im sozialen Leben weniger auf das an, was die Individuen denken oder sagen, sondern auf das, was sie tun.
Kurt Bayertz: Interpretieren, um zu verändern. Karl Marx und seine Philosophie, Verlag C. H. Beck, München 2018, 272 Seiten, 24,95 Euro.

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Der an der Berliner Humboldt-Universität lehrende Historiker Wilfried Nippel konzentriert sich mit seiner in der Reihe C. H. Beck Wissen erschienenen, vor allem Einsteigern sehr zu empfehlenden Biographie „darauf, wie Marx von seinen Zeitgenossen wahrgenommen werden konnte“. Anders als bei Bayertz geht es also in diesem Fall nicht um Marx’ intellektuelle Entwicklung, sondern um seine „äußere“ Biographie, die wesentlich durch die zu Lebzeiten von ihm veröffentlichten Schriften bestimmt wurde.
Unser heutiges Wissen über Leben und Werk von Marx beruht in weiten Teilen auf der Auswertung seiner Korrespondenz. Das betrifft, wenn es um die zwei Jahrzehnte zwischen 1850 und 1870 geht, vor allem den Schriftverkehr mit Friedrich Engels. Allerdings werden viele, familiäre Angelegenheiten betreffende Fragen für immer offenbleiben. Denn die von den Marx-Töchtern Laura und Eleanor gegen Engels erstrittene Verfügungsgewalt über einen Teil des Nachlasses hat nicht nur für die Editionsgeschichte bis auf den heutigen Tag negative Folgen. Auch jeder Biograph muss sich damit abfinden, dass die Töchter – im Namen der Familie (?) – dem „Voyeurismus der Nachwelt“ durch die Vernichtung eines Großteils der Familienbriefe vorsorglich entgegengetreten sind.
Eine Anregung für weitergehende Studien liefert Nippel mit dem Hinweis auf einige Dinge, die sich – obgleich nirgends belegt – aus früheren Darstellungen fortgeschrieben haben und bis heute in der Welt sind. So zum Beispiel die Aussage, dass Marx im Vorfeld der Revolution von 1848/49 eine nicht unbeträchtliche Summe für Waffenkäufe gespendet haben soll. Ähnlich sieht es mit der von Marx verfassten und erstmals 1927 veröffentlichten polemischen Streitschrift „Herr Vogt“ aus. Hier haben wir einen mittlerweile zur historischen Quelle gewordenen Text, der Angaben zur politischen Biographie von Marx enthält, die selten hinterfragt wurden.
All das zeigt einmal mehr, so die Nippels Buch abschließende Prognose, dass auch nach dem „Abschwung“ der Feierlichkeiten anlässlich des 200. Geburtstages, „das Thema auf lange Zeit nicht erledigt sein“ wird.
Wilfried Nippel: Karl Marx, Verlag C. H. Beck, München 2018, 128 Seiten, 9,95 Euro.

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Wer sich neben all den noch zu erwartenden Biographien und Spezialuntersuchungen doch eher dem „originalen“ Marx zuwenden möchte, dem sei ein Band aus der neuen Reihe der dtv Bibliothek empfohlen. Zwar schmal im Umfang findet man hier Marx in seiner ganzen Breite: als Journalist, Essayist, Philosoph, Historiker, Ökonom oder auch Jurist. Ziel der von dem Politikwissenschaftler Klaus Körner herausgegebenen Zusammenstellung ist es, „Leser ohne einschlägige Vorkenntnisse mit Marx’ Schaffen bekannt zu machen und zu weiterem Studium der Originaltexte zu motivieren“. Neben der auf Das Kapital konzentrierten Einleitung hat Körner jedem der chronologisch angeordneten, in ihrer Länge überschaubaren, vor allem aber aussagekräftigen Texte eine kurze einleitende Bemerkung vorangestellt, die den für das Gesamtverständnis wichtigen biographischen und werkgeschichtlichen Zusammenhang klärt.
Am Beginn der Auswahl steht der Artikel zu den „Debatten über Preßfreiheit“ von 1842, Marx’ erster Beitrag für die Rheinische Zeitung, der als ein „brillanter Angriff auf die neue preußische Zensurinstruktion“ prompt von der Zensur verboten wurde. Es folgt die Einleitung „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, geschrieben 1843 und im Jahr darauf in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht. Aufgenommen wurde auch der erste Abschnitt aus dem 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in dem es um das Verhältnis von Klassen und Staat geht. Das Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, in dem Marx wie an keiner anderen Stelle seinen intellektuellen Werdegang schildert und das Konzept des historischen Materialismus entwickelt, fehlt natürlich ebenso wenig wie die Thesen über Feuerbach, das Manifest oder die im März 1850 gehaltene und als Rundschreiben illegal verbreitete „Ansprache der Zentralbehörde an den Bund“. Aus dem ersten Band des Kapital hat Körner das 24. Kapitel ausgewählt: „Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“. Im Gegensatz zu den anderen Texten, bei denen der Herausgeber bewusst auf zusätzliche Kommentierungen verzichtet hat, wurde hier der umfangreiche, das Verständnis erleichternde Apparat aus Band 23 der Marx-Engels-Werke vollständig übernommen. Den Abschluss des Lesebuches bilden die erst nach dem Tod von Marx in einer durch Engels „leicht geglätteten“ Fassung veröffentlichten „Randglossen zum Programm der Deutschen Arbeiterpartei“, besser bekannt unter dem Titel „Kritik des Gothaer Programms“.
Klaus Körner (Herausgeber): Es kommt darauf an, die Welt zu verändern. Ein Karl-Marx-Lesebuch, dtv-bibliothek, München 2018, 464 Seiten, 20,00 Euro.