21. Jahrgang | Nummer 7 | 26. März 2018

Wie man die Katalanen verstehen kann

von Jürgen Brauerhoch

Katalonien, die Region im nordöstlichsten Zipfel Spaniens, lange unbeachtet, ist durch die Bestrebungen der Katalanen, unabhängig von Spanien zu werden, plötzlich die Favoritin der Medien geworden. Man diskutiert, reportiert und rätselt herum, was das wohl für Menschen sind, diese eigensinnigen Katalanen, die den höchsten Lebensstandard von Spanien haben und gerade deshalb keine Spanier sein wollen.
Wie ist das zu verstehen?
Aus meiner Erfahrung letzten Endes nur beim Essen und Trinken, also im Restaurant! Schon Erich Kästner empfahl: Toren besuchen im fremden Land die Museen, Weise gehen in die Taverne. Genau das sollte man in Katalonien praktizieren, anfangs fast ein Abenteuer. Das fängt schon damit an, dass Sie mittags vor 13 Uhr und abends vor 20 Uhr glatt verhungern können, denn früher gibt es – wie in Spanien – auch in Katalonien nichts zu essen. Es gibt zwar kleine Tapas in Bars und Pinten, aber die sind überall in Zentralspanien, speziell im Baskenland, bei weitem besser als in Katalonien.
Nun zur Platzwahl: Unmöglich, dass Sie sich einfach zu anderen an einen Tisch setzen. Sie müssen warten, oftmals in der Schlange, bis Ihnen ein Tisch, ein Platz angewiesen wird, was ja auch in etlichen anderen Ländern üblich ist. Wenn Sie Glück haben, sitzen Sie nicht gerade unter einem selbst bei kühlem Wetter wild um sich fauchenden Ventilator oder einem riesengroß an die Wand geschraubten lärmenden Fernseher. In fast allen „volkstümlichen“ Lokalen können Sie dem jedoch kaum entgehen. Gerade diese beliebten Gasthäuser der Einheimischen brauchen Sie für weitere Studien, denn jetzt beginnt das eigentliche Abenteuer, der Blick in die Speisekarte. Da ist in der Regel alles groß und fett gesetzt in Català, der katalanischen Sprache, dahinter mickrig und mager in spanischer Sprache neben vielleicht noch English, Français und neuerdings auch Russisch. Deutsch ist seltener, obwohl die Mehrzahl der Feriengäste an der Costa Brava aus Deutschland kommt. Bei „polyglotten“ Speisekarten muss man vorsichtig sein. Ob hier wirklich die authentische katalanische Küche aufgetischt wird, wie sie die Einheimischen schätzen – nämlich qualitätsbewusst und eigensinnig?
Die gibt es vor allem in den selbst in kleinen Nestern präsenten Restaurants, wo die Katalanen meist familien- oder gruppenweise einfallen und die sich oft über Stunden hinziehenden Mahlzeiten mit einer Cava beginnen, Champagner à la català aus dem Penedès.
Beim Bestellen lohnt es sich, ein paar Brocken Catalá in petto zu haben. Man wird ganz offensichtlich charmanter bedient, wenn man statt buenos dias bon dia sagt, statt por favor si us plau und statt bogavante llagosta (Hummer). Was auf keiner Karte fehlt, ist Fisch und hier vor allem der bacalao (Kabeljau) in allen Varianten – gebraten, gedünstet, gekocht, mariniert oder gar in einer Schokoladensoße serviert – der Liebling aller Katalanen!
Mit dem bacalao oder auch den mandonguilles amb sipia (den in ganz Spanien beliebten kleinen Bouletten aus Fisch und Fleisch) sind Sie einer Entdeckung ganz nahe, die vor einiger Zeit schlaue Restaurantkritiker wie Wolfram Siebeck gemacht und an die große Glocke gehängt haben, dass nämlich die Basisphilosphie der katalanischen Küche mar i muntanya sei, also die raffinierte Mischung von See- und Landprodukten wie überhaupt die Kombination von Dingen, die anscheinend nicht zueinander passen. Ein erschreckendes Beispiel: arros negre, ein in tiefschwarzem Tintenfischblut gebadeter Reis, der in einem Sud mit furchterregendem Meeresgetier, Speck oder Fleischstücken endlos gekocht wird und körnig und gut gewürzt auf den Tisch kommt. Die Katalanen verehren alles, was im Meer herumkrebst, muschelt und sticht; denn selbst den stacheligen Seeigeln gehen sie wie den Austern mit Spezialmessern zu Leibe, schlitzen sie auf und schlecken sie aus.
Früher oder später werden Sie eine fantastische, allerdings gesamtspanische Spezialität kennenlernen, das menu del dia, ein besonders günstiges Mittagsmahl für wenig Geld, das manchmal allerdings erst auf Nachfrage angeboten wird. Es besteht grundsätzlich aus drei Gängen – Vorspeise, Hauptgericht, Nachtisch – inklusive Wein, Wasser und oft noch einem cafè solo für gerade mal 10 bis 15 Euro. Wein kommt als Karaffe oder ganze Flasche auf den Tisch, während bei uns selbst in Weinbaugebieten die Unsitte um sich greift, statt im traditionellen Viertele (0,25 l) den Wein in Dezilitern auszuschenken, ein Ende der Weinkultur.
Doch bleiben wir vorerst beim Essen. Genau so häufig wie bacalao taucht auf Speisekarten die botifarra auf, die katalanische Bratwurst. Wir Germanen, überzeugt von der Überlegenheit Thüringer, Fränkischer, Rheinischer, Westfälischer oder Pommerscher Würste, begegnen dem katalanischen Pendant natürlich mit Misstrauen, werden aber nach Überwindung der Vorurteile Konsistenz und Geschmack zu preisen wissen und erfahren, dass auch andere als deutsche Metzger ihr Geschäft verstehen. Die botifarra gibt es groß und klein, mit und ohne Pfeffer, grob und fein – immer ein Genuss für Anti-Veganer.
Was noch auffällt und sich erst langsam bei uns durchsetzt, ist das liberale Verhalten der Katalanen gegenüber den um sich greifenden Allergien. Ohne Murren wird ein Gericht selbst dann noch ausgetauscht, wenn die Allergieangst erst am Esstisch erwacht. Auch bei Reklamationen haben wir nie das übliche Beleidigtsein erlebt und wurden ohne Umschweife mit einer Alternative beglückt.
Was haben wir bisher über die Katalanen gelernt? Sie essen gern auswärts und stundenlang in Gesellschaft, lieben originelle Speisen, trinken gern zum Essen, aber nie „über den Durst“, schrecken nicht vor ungewöhnlichen Gerichten zurück und arbeiten sich geduldig durch komplizierte hindurch wie bei den cargols – das sind diese Schleimer, hochdeutsch Schnecken, die Katalanen geradezu abgöttisch verehren. Man beobachte, wie sie mit spitzem Gerät, oft nur einem Zahnstocher, die in Knoblauch gebratenen Schnecken liebevoll aus dem Schneckenhaus pulen und feierlich in den Mund schieben. Und das auch zuhause; denn kaum hat es ein paar Tropfen geregnet, sieht man Scharen von Schneckensammlern am Straßenrand, denen die Nähe zu Feinstaub und Stickoxyd genauso egal ist wie den cargols selber.
Starten wir nun zu einem kleinen kulinarischen Streifzug durch die Heimat von Puigdemont, Ex-Ministerpräsident der katalanischen Regierung, die Baix Empordà in der Comarca Girona. Die C-31 zwischen den mittelalterlichen Städtchen Pals und Torroella de Montgri verwöhnt den Autofahrer nicht gerade mit Sehenswürdigkeiten, nach giftig-grünen Reisfeldern bis hinüber zur Costa Brava folgen nur noch Autofriedhöfe und Caravan-Abstellplätze, Schiffsreparatur-Werkstätten, stillgelegte Fabrikhallen und pleite gegangene Einrichtungshäuser. Inmitten dieses Tohuwabohus steht ungerührt ein Restaurant mit dem Namen des römischen Wasser-Gottes Triton. Äußerlich unterscheidet es sich kaum von den gesichtslosen Bauten an der Durchgangsstraße und das Abenteuer beginnt hier mit der Frage, ob man der Empfehlung eines Einheimischen überhaupt trauen und hier eintreten soll. Im ersten Moment schaut das Triton mehr wie eine Kantine als ein Gourmetrestaurants aus. Doch schon die Speisekarte und erst recht die menus mit ihren ausgesprochen pfiffigen Vorspeisen und Fischspezialitäten lassen das Ambiente im Jubel der Geschmacksnerven vergessen. Der Wirt, selbst einst Fischer, kauft offensichtlich nur erste Qualität ein, unterstützt von einem Team flinker Frauen, die blitzschnell alle Köstlichkeiten heranschaffen. Selbst die Götter Triton oder Poseidon werden nie eine lenguado ala brasa (Seezunge vom Grill) in dieser einsamen Qualität genossen haben. Danach eine crema catalana und die Welt ist in Ordnung…