von Ulrich Kaufmann
Nach dem „Ottilie“-Roman (1992), der großartigen Rede auf Ritter von Gadolla, den Retter ihrer Heimatstadt, sowie dem Buch über Goethes Gotha (2013) schreibt Sigrid Damm nun mit „Im Kreis treibt die Zeit“ ein weiteres Mal über die thüringische Residenzstadt. Dabei wird zu Beginn des Buches, an dem das Begräbnis ihres neunzigjährigen Vaters 1993 geschildert wird, deutlich, dass sie persönlich und literarisch von Gotha Abschied zu nehmen gedenkt. In Wahrheit kommt die Autorin Jahre später mit diesem Buch erst wirklich in Gotha an: Beim Ausräumen der väterlichen Wohnung stößt Sigrid Damm, die für ihre gründlichen Recherchen weithin geschätzt wird, auf Fotos und umfangreiches Dokumentarmaterial über die Familie und ihren Vater im Besonderen.
Im dem autobiografisch grundierten „Ottilie“-Buch ist von Saras „unseligem Verhältnis zum Vater“ die Rede, von dem Wunsch „einen anderen zu haben.“ Den Roman hat Sigrid Damm ihrem alten Vater noch geschenkt. Erst in den letzten Lebensjahren des Willy Och, nach dem Tod seiner Frau 1991, begann sich Sigrid Damm als Tochter und später als Autorin gründlich für ihren Vater zu interessieren. Damms Vater hatte fast ein ganzes Jahrhundert durchlebt, von der Kaiserzeit bis zur Wiedervereinigung. Für die Autorin ging es darum, ein eigenes Vaterbild zu gewinnen. Jahrzehnte war dieses geprägt und überdeckt von ablehnenden Aussagen ihres geliebten Großvaters sowie der Mutter.
Die Autorin, die in Jena auch Geschichte studiert hat, erzählt dem Leser – mitunter etwas breit – die europäische Historie des 20. Jahrhunderts. Spannend wird es, wenn sie diese auf ihre Heimatstadt und die Vita ihres Vaters bezieht. Willy Och, Sohn aus bürgerlicher Familie, absolviert seine Ausbildung in einem jüdischen Bankunternehmen. Dass er zu den Besitzern des Bankhauses freundschaftlichen Kontakt pflegt, nehmen ihm die neuen Herrscher nach 1933 übel, schüchtern ihn ein. Ein Leben lang ist der Vater leidenschaftlicher Wanderer. Mit seinen Freunden aus der Wandervogelbewegung lernt er in jungen Jahren wichtige Kulturorte Europas kennen. Entschuldigend und selbstkritisch hat sich der Vater (wie es eingangs im „Ottilie“-Text heißt) für die Zeit nach 1933 einen „kleinen Mitläufer“ genannt. Um seinen Arbeitsplatz zu erhalten und seine Familie zu ernähren, tritt er 1937 in die NSDAP ein. Hausverwalter ist er, auch das Wort „Blockwart“ fällt.
Erst in den letzten Kriegswochen muss der Magenkranke zum Militär, um als Flakschütze sein geliebtes Gotha zu „verteidigen“. Nach kurzer Gefangenschaft fährt er zu Geschäftsfreunden in den Westen. Seine Familie will er nachholen. Als er von der schlimmen Herzerkrankung seiner jüngsten Tochter Sigrid erfährt, kehrt er 1948 nach Gotha zurück, in die nunmehrige Sowjetische Besatzungszone. Stets spricht der jahrzehntelang im Bankgeschäft Tätige davon, dass er lieber im Westen Deutschlands gelebt hätte.
Die Konflikte zwischen Vater und Tochter hatten zunehmend auch ideologische Ursachen. Die junge Sigrid Och geht, wie Viele ihrer Generation, mit Illusionen und einem zu simplen Geschichtsbild vor Augen, 1959 zum Studium nach Jena. Der vielseitig interessierte Vater, ein stolzer Gothaer Kulturbürger, weiß längst, um ein Beispiel zu geben, die kulturellen Leistungen der Ernestiner (so Ernst der Fromme) zu schätzen. Die junge Tochter, geprägt vom sozialistischen Geschichtsverständnis, das den Adel vor allem verachtet, kam mit dem Vater in keinen fruchtbaren Dialog. Später wird sich Sigrid Damm für die „Besserwisserei“ in ihren frühen Jahren entschuldigen. Die Figur des Gothaer Herzogs Ernst der Fromme (1601–1675), der das von Damm so geliebte Schloss Friedenstein erbauen ließ, zieht sich fast leitmotivisch durch das Buch. Am Ende gipfelt dies in einem fast eigenständigen Essay. Hier zeigt Sigrid Damm, wie in vielen Büchern zuvor, wie kundig sie über Fürstentümer zu schreiben vermag. Wollte sie dies ihrem Vater postum nochmals beweisen?
Das autobiografische Buch beginnt, wie angedeutet, mit dem Vorsatz, sich nie wieder literarisch mit Gotha zu befassen. Der Erzähltext, der erneut keine Genrebezeichnung aufweist, endet 2010 mit der Schilderung einer Feierstunde im eiskalten Ekhof-Theater. Erstmals wird mit Sigrid Damm eine Frau Ehrenbürger Gothas. Viele Freunde, Kollegen und Leser waren gekommen. Ihre verstorbenen Eltern sind bei der Feier in den Gedanken der Autorin anwesend. Was Sigrid Damm am Ende ihres Buches unerwähnt lässt, ist, dass sie in der Rede „Dank an Gotha“ kaum von sich spricht. Vor allem redet sie über den Österreicher Ritter Josef von Gadolla, der die Rettung Gothas mit seinem Leben bezahlte. Teile des eindringlichen Redetextes wurden in das neue Buch integriert. Dies gilt auch für Passagen über die Mutter, die Sigrid Damm aus ihrem Schottland-Buch „Diese Einsamkeit ohne Überfluß“ übernimmt. Die Autorin hatte das Buch über ihren Vater schon viele Jahre im Kopf. Im Erzähltext erfahren wir, dass sich die Goethe-Bücher über Gotha beziehungsweise Charlotte von Stein (2015) „vorgedrängelt“ hätten.
Der Buchtitel „Im Kreis treibt die Zeit“, eine lautmalerische Kostbarkeit, wird im Text gegen Ende zitiert. Wohl steht er dafür, dass die Tochter im Abschiednehmen vom Vater dessen Charakter erst wirklich erkennt.
Auf dem Cover ist – etwas pathetisch – von einer „nachgetragenen Liebe“ die Rede. Von einer „berührenden Vater-Tochter-Geschichte“ indessen kann man mit Fug und Recht sprechen.
Sigrid Damm: Im Kreis treibt die Zeit, Insel Verlag Berlin, 2018, 280 Seiten, 22,00 Euro.
Schlagwörter: Gotha, Sigrid Damm, Ulrich Kaufmann, Willy Och