von Petra Erler
Daniel Ellsberg machte die Pentagon-Papiere öffentlich, um den Vietnam-Krieg zu beenden. In „The Doomsday Machine – Confessions of a Nuclear War Planner“, das im Dezember 2017 erschien, enthüllt er, dass er damals ebenfalls geheime militärische Planungen zur Führung eines Nuklearkrieges stahl. Sie gingen im Hurrikan verloren. Nicht verloren ging sein Insiderwissen zur nuklearen Kriegsführung. Seit 1975 suchte Ellsberg einen Verlag, um seine Erkenntnisse zu teilen.
Das Buch, obwohl gespickt mit detaillierten Beschreibungen seiner Erlebnisse, ist kein biographisches Erinnerungsbuch. Die „Weltuntergangsmaschine“, die Ellsberg kennengelernt und mit perfektioniert hat, ist auch heute in Betrieb. Die USA und Russland verfügen beide über die Fähigkeit, nahezu alles Leben auf unserem Planeten auszulöschen. Nicht alle Fakten, die Ellsberg auf den Tisch legt sind neu. Ellsberg ist auch nicht der Erste, der vor einem Nuklearkrieg warnt und Vorschläge vorlegt, wie wir ihn vermeiden könnten. Einzigartig ist dieses Buch vor allem in politischer und moralischer Hinsicht.
Ellsberg beschreibt, wann er vom überzeugten Verfechter der nuklearen Abschreckung zu ihrem Gegner wurde. Präsident Kennedy wollte 1961 wissen, mit wie viel Opfern im Falle eines nuklearen Krieges zwischen den USA und der damaligen Sowjetunion zu rechnen wäre. Mehr als eine halbe Milliarde Menschen, lautete damals die Antwort. Diese kühle Planung eines Völkermords, hat Ellsberg bis auf die Knochen erschreckt. Aber damals, so Ellsberg, wurden weder die Verwundeten noch die Flammenopfer eingerechnet. Zu diesem Zeitpunkt war auch noch nicht bekannt, dass der Rauch der atomaren Feuer einen nuklearen Winter nach sich ziehen würde, der den ganzen Erdball erfasst.
Allein die Windrichtung entscheidet, wer und was in Europa (und in den USA) am „Day after“ noch atmet oder nach 6 Monaten nicht durch Verstrahlung elend zugrunde gegangen ist. Diese „Glücklichen“ würden den nuklearen Winter heraufziehen sehen und schließlich verhungern. Eine Studie aus 2014 prognostiziert Temperaturen von minus 15 Grad bis minus 25 Grad für 20 Jahre, sofern „nur“ 100 kleine Kernwaffen eingesetzt würden.
Mit welchen Opferzahlen die Nuklearkriegsdesigner heute planen, wird streng geheim gehalten. Sie sind willige Vollstrecker einer perversen Militärdoktrin, die Sicherheit predigt und einen globalen Holocaust einkalkuliert.
Nun hat uns Hollywood in unzähligen Filmen regelrecht eingebläut, dass im äußersten Konfliktfall zwei vernünftige Regierungschefs eine nukleare Eskalation in letzter Minute stoppen und den Roten Knopf nicht drücken werden. Laut Ellsberg ist das nur eine Gute-Nacht-Geschichte für uns und den potentiellen Gegner. Aufgrund der militärischen Planungen, die auf die Enthauptung der gegnerischen Kommandozentrale durch einen Erstschlag hinauslaufen, hatte bereits Präsident Eisenhower die Verantwortung für den Einsatzbefehl von Nuklearwaffen delegiert und die so „Geehrten“ hatten weiter delegiert. Das Gleiche gilt für die russische Seite. Im digitalen Zeitalter ist das ganze System, die sogenannte „tote Hand“, so perfektioniert, dass auch Computer anstelle von Menschen „vergeltend“ agieren könnten.
Ellsberg enthüllt ebenfalls, dass die USA ihren NATO-Verbündeten in Europa eine Garantie auf einen nuklearen Vergeltungsschlag gegen Russland im Fall eines konventionellen russischen Angriffs gegeben haben. Man müsse nur den „Joint Strategic Capability Plan“, das zentrale Dokument zur Kriegsführung, richtig lesen. Sofern man diese Planung lesen darf, denn sie ist streng geheim. Ob die NATO-Partner der USA sie kennen, ist ungewiss. Sie enthält einen ergänzenden Teil zur Führung eines Nuklearkrieges.
Nur ein einziges Mal wurde eine weitgehend geschwärzte Version (1996) öffentlich freigegeben. Dort steht, Atomwaffen dienten der Abschreckung. Allerdings steht dort auch, dass sich die USA den Einsatz von Atomwaffen vorbehalten, wenn es den Interessen der USA entspricht. Aus dem Abkürzungsverzeichnis gehen die geographischen Zielgebiete hervor: China und Russland. PAR heißt „gefährdete Bevölkerung“, DE „Schadenserwartung“.
Ellsberg beschreibt anhand der Kuba-Krise sehr eindrücklich, wie haarscharf die Menschheit an einer nuklearen Katastrophe vorbeigeschrammt ist. Fakten fehlten oder wurden falsch interpretiert, die Intention des Gegners missdeutet, Rote Linien aufgestellt, deren Verletzung man unter Applaus der Kriegstreiber dann im Interesse der eigenen „Glaubwürdigkeit“ rächen wollte. So funktioniert es auch heute. Dass die Situation damals nicht nuklear eskalierte, war – wie sich sehr viel später herausstellte – der Besatzung von drei russischen U-Booten, die Nuklearwaffen an Bord hatten, einem Zufall und Chruschtschow zu verdanken. Daraus kann man nur einen Schluss ziehen: Wachsendes Konfliktpotential und Misstrauen in den Beziehungen mit Russland bringen uns der Auslöschung der Zivilisation unvermeidlich näher.
Ellsberg zeichnet ein ungeheuerliches Bild der Pervertierung des menschlichen Forschungs- und Innovationsdrangs bei der Waffenentwicklung und Kriegführung im Nuklearzeitalter. Die „Banalität des Bösen“ existiert in Gestalt der Bereitschaft zu einer atomaren Kriegführung auf beiden Seiten. Ellsberg belegt sehr überzeugend, dass der Zweite Weltkrieg einen Wendepunkt im militärischen Denken bedeutete. Angriffe aus der Luft und die massenhafte Verbrennung von Zivilisten der gegnerischen Seite durch Bombenangriffe wurden Teil der Militärstrategie. Noch vor Hiroshima und Nagasaki verbrannten allein in einer Nacht in Tokio 100.000 Menschen.
Die Entwickler der ersten Atombombe riskierten den ersten Test, obwohl sie nicht ganz sicher waren, ob die Erde dadurch in Stücke gerissen würde. Die heutigen Nuklearwaffen sind 1000 Mal stärker als das, was damals getestet und 1945 auch eingesetzt wurde. Die Bilder von Hiroshima oder Nagasaki erzählen nicht vom Grauen, das heute möglich wäre.
Ellsberg berichtet auch von einem im Wortsinn wahnsinnigen Vorschlag aus dem Militär, den viele abgezeichnet hatten, der erwog, einem russischen nuklearen Angriff durch das Anhalten der Erdrotation zu begegnen.
Die Entwicklung der ersten Nuklearwaffe setzte den nuklearen Rüstungswettlauf in Gang und führte zur Weiterverbreitung auf inzwischen neun Länder. Zwei davon halten das Schicksal der Menschheit in ihren Händen, obwohl, so Ellsberg, kein Mensch diese ungeheure Verantwortung tragen könnte oder sollte. Gelingt es der Menschheit nicht, die „Weltuntergangsmaschine“ Schritt für Schritt zu demontieren und sich auf eine dauerhafte friedliche Koexistenz und die gemeinsame Lösung von Menschheitsaufgaben zu verständigen, ist die Auslöschung der Zivilisation nahezu vorprogrammiert. Spätestens mit künstlicher Intelligenz begnadete Massenvernichtungswaffen werden sich gegen die Schöpfer richten. Das Wettrennen darum hat schon begonnen.
Tatsächlich erleben wir, aber in unendlich gesteigerter Form, die „Banalität des Bösen“, die sich auf beiden Seiten in der Vorbreitung einer atomaren Kriegsführung manifestiert. Nach Ellsberg, so in einem Interview mit The New York Times im Februar 2018, befänden sich die allermeisten Menschen im Zustand der Realitätsverweigerung, wenn es um Nuklearwaffen geht. „The Doomsday Machine“ wurde geschrieben, um das zu ändern.
Daniel Ellsberg: The Doomsday Machine – Confessions of a Nuclear War Planner, Verlag Bloomsbury (USA), 2017,23,95 Euro. Das Buch befindet sich auf der Shortlist für die „Andrew-Carnegie-Medaille für Exzellenz“ 2018 (Sachbuch).
Schlagwörter: "Weltuntergangsmaschine", Atombombe, Daniel Ellsberg, Massenvernichtungswaffen, Nuklearwaffen, Petra Erler