von Erhard Weinholz
Ist man im Berliner Osten unterwegs, lässt sich der Alexanderplatz, kurz Alex genannt, kaum vermeiden. Der Alex bietet Musik aller Art, Rufe, Gedränge und Bratwurstgerüche. Das Schöne hingegen ist auf jenem Platz nicht eben häufig. Einmal allerdings, im letzten Sommer war es, spazierte, wer weiß, warum, zwischen dem Brunnen und dem einstigen Interhotel eine groß gewachsene, sehr gut aussehende junge Frau mit leicht verschämtem Lächeln nackt herum. Vielleicht ist dergleichen ansteckend, denn alles blieb auf Abstand. Ein paar Passanten fotografierten. Aber wirklich nur ein paar. Wahrscheinlich Touristen. Als echter Berliner muss man so tun, als sei das hier ganz normal.
Lange aufgehalten habe ich mich an jenem Tage nicht auf dem Alex. Überhaupt nutze ich ihn fast nur zum Umsteigen, bei kleinen Ausflügen etwa in die Gegend um den U-Bahnhof Mohrenstraße. Man kommt ja auf verschiedenerlei Weise dorthin. Nehme ich den Bus, bin ich immerhin vor manchen Risiken des Großstadtlebens geschützt: vor Menschen, die … ach, ich gehe mal lieber nicht ins Detail. Nur fährt man mitunter recht lange, vor allem, weil oft genug Reisegruppen den Betrieb aufhalten. Berlin braucht die Touristen, der Berliner gibt ihnen auch gern Auskunft, selbst wenn er seine Stadt kaum kennt, aber sie sind ihm doch eher lästig als lieb.
Heute hat schon die Straßenbahnfahrt lange genug gedauert, ich steige also hinab in den Untergrund. Eine Bahn ist gerade weg, die nächste kommt in zwei Minuten, prima. Aber ich habe mich zu früh gefreut: kein Sitzplatz mehr frei. Die U-Bahn ist eines der Verkehrsmittel wirklich für alle. Als ungeschriebenes Gesetz gilt hier die revolutionäre Losung Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit. Zwischen den beiden ersteren gibt es ja hin und wieder gewisse Spannungen, weil etwa die Art, wie mancher seine Freiheit nutzt, zu Ungleichheiten führt. In der U-Bahn dagegen ergänzen sie einander auf ideale Weise: Jeder hat hier die Freiheit zu tun, was ihm passt. Letzten Herbst habe ich zum Beispiel am Gesundbrunnen einen jungen Mann aus dem Osten unseres Kontinents der Bahn entsteigen sehen, der, in der einen Hand eine Schnaps-, in der anderen eine Bierflasche, nur mit einer Badehose bekleidet war. Ja, was wollnse, gnä’je Frau, Berlin is eben ne Weltstadt, und wenn ihnen dis nich passt, jehnse doch nach drühm beziehungsweise zurück nach ihr’n Posemuckel!
Während ich nun, wir haben inzwischen Klosterstraße erreicht, meine Unterwegslektüre hervorkrame, denn man kann ja auch im Stehen lesen, stürzen drei Menschen aus dem schönen Süden im Stile eines Überfallkommandos in den Wagen und eröffnen, mit Trompete, Rasseln und DVD-Anlage bewaffnet, ein musikalisches Schnellfeuer: Bamba, la Bamba, Bamba, la Bamba … Zuletzt kommt – leider – die Brüderlichkeit zum Zuge: Die Touristen holen für diese Wegelagerer ihr Portemonnaie aus der Tasche.
Es gibt auch geschriebene Gesetze in der U-Bahn, Verhaltensregeln für den Notfall. Zunächst einmal heißt es: Ruhe bewahren! Ruhe ist bekanntlich die erste Bürgerpflicht. Darauf: Informieren Sie das Zugpersonal! Wenn man nur wüsste, wo es ist … Den Zugführer wird das alles wohl kaum interessieren. Aber was, wenn sich mein Sitznachbar, während die Musiker ihre Show abziehen, in ein Monster mit Krokodilschnauze verwandeln und ihnen, einem nach dem anderen, den Kopf abbeißen würde? Ruhe bewahren müsste man auch dann. Und vielleicht doch den Zugführer ansprechen? Über solchen und ähnlichen Gedanken erreiche ich, es ist seit längerem wieder leidlich still im Wagen, die Mohrenstraße.
Der U-Bahnhof Mohrenstraße hat etwas von einer Grabkammer an sich, einem Herrschergrab. Oder einer Gedenkstätte für die Opfer, die nun mal gebracht werden müssen: Dunkelrot und schwarz ist der Marmor, der die Wände und Säulen verkleidet. Man hört immer wieder, er stamme aus der Abbruchmasse von Hitlers Neuer Reichskanzlei. Das stimmt zwar nicht, aber es hätte gepasst, zum einstigen Bahnhofsnamen Thälmannplatz wie zur Art des Steins.
Oben dann sind Licht und Freiraum. Halblinks vor mir steht der schönste Neorenaissance-Bau weit und breit, einst Direktionssitz einer Darlehenskasse, der kur- und neumärkischen Ritterschaft. Zur Rechten führt eine kleine Stichstraße zum Parkplatz hinter der nordkoreanischen Botschaft, einem meiner Lieblingsorte in dieser Stadt. Nicht sonderlich groß ist dieser Platz und rings von Gebüsch umgeben; ein exotischer Baum steht am Rande, der im Frühsommer große, orchideenartige Blüten treibt. Vielleicht parkt man hier auch exterritorial, auf Botschaftsgrund also, denn einmal sah ich an dem Volleyballnetz in der Platzmitte junge Männer aus Ostasien beim Spiel. Immer stehen ein paar ausrangierte Autos ohne Nummernschild herum; rechts in der Ecke hat jemand eine weiße Stretchlimousine abgestellt. Daneben – nicht ganz kniehoch – ein kleines Mauer-Rondell, man kann dort sitzen und seinen Kaffee trinken. Man kann auch in aller Ruhe herumwandern auf dem Gelände. Der Rummel auf dem Alex, das Treiben in der U-Bahn, all das ist weit weg: Etwas Inselhaftes hat dieser Parkplatz an sich.
Mit Inselgedanken verbindet sich für uns fast nur Gutes: Man spricht von Inseln der Ruhe, des Glücks. Von Inseln des Unglücks inmitten einer glücklichen Welt habe ich noch nie gehört. So ist sie der Oase verwandt, nur wird hier mehr das Abgeschlossene betont, das Sicherheit bietet vor dem Bösen: Zufluchtsstätte ist sie, Ort des Wunderbaren und der Utopien. Schwierig wird es nur, wenn man sie nicht oder nur unter Mühen verlassen kann – bei manchem aus dem Westen unserer Stadt zum Beispiel stellte sich einst Inselkoller ein. Ich wünsche mir ein Gesamtverzeichnis der deutschen Inselliteratur.
Seit neuestem aber steht im Tor dort nahe der Mohrenstraße ein Schild: Parken verboten. Wahrscheinlich ein nordkoreanischer Racheakt. Der Platz ist nun leer, der Aufenthalt an diesem Orte mir verleidet. Es ist sonderbar, dass immer wieder gerade das verschwindet, was einem lieb geworden ist.
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