21. Jahrgang | Nummer 5 | 26. Februar 2018

Deutsch

von Heino Bosselmann

Die DDR-Bürger traten der Bundesrepublik mit vergleichsweise hervorragenden Kenntnissen ihrer Muttersprache bei. In der „Systemauseinandersetzung“ hatte es ihnen letztlich nichts genützt, dass die schriftsprachlichen und literarischen Ansprüche der Bildung im untergehenden Land enorm hoch und Abschlussprüfungen ohne sehr guten Orthographie- und Grammatikstatus nicht bestehbar waren. Und ein Leseland musste die DDR zwangsläufig sein, hatte sie doch sogar zwischen den Zeilen zu lesen, ganz abgesehen davon, dass die Literatur eine zweite Lesart zu offiziellen Sprachregelungen bot.
Die aus dem Westen, hieß es nach Wende und Wiedervereinigung, die konnten richtig gut reden. Beeindruckend! Nur eben nicht so besonders schreiben. Zum einen war das Reden im Sinne des marktwirtschaftlich erforderten „Präsentierens“ jetzt aber offenbar wichtiger, zum anderen hatten die Kultusbürokraten der Bundesrepublik längst auf eine systematische Ausbildung im Orthographischen und Grammatischen verzichtet und folgerichtig die Fehlerquoten in Deutsch- und Fremdsprachenprüfungen weitestgehend geschleift. Heute können allenfalls ein bis zwei Notenpunkte im Deutsch-Abituraufsatz abgezogen werden, wenn das Textverständnis durch gravierende elementarsprachliche Fehler entscheidend leidet. Wer also überhaupt etwas schreibt, kann es irgendwie schreiben. Als richtig gilt, was verstanden wird.
Hatte die DDR Wert darauf gelegt, neben einer gründlichen Ausbildung im Lesen und Schreiben sogar noch Sprachgeschichtliches – Alt-, Mittel- und Frühneuhochdeutsch – in die Lehrpläne einzutragen, ging es seit den Neunzigern eher darum, die „didaktische Reduktion“ und das „exemplarische Prinzip“ walten zu lassen. Es galt als modern, Lehrpläne zu „entrümpeln“, auf einen Kanon in der literarischen Bildung zu verzichten, weil der nur einenge, und unselige Reformen der elementarsprachlichen Grundschulbildung durchzuprobieren, mit verheerendsten Folgen jene des Schreibens nach Gehör von Jürgen Reichen.
Völlig verpönt waren zudem Diktate – mit der Argumentation, niemand würde mehr irgendwo nach Diktat etwas schreiben müssen wie früher das Fräulein Sekretärin. Und überhaupt Diktat: Das klang so nach Diktatur wie das „Fräulein“ nach sexistischem Sprachgebrauch. Nach den Diktaten starb der deutsche Schulaufsatz aus, bei dem es, jedenfalls nach dem Ende der Ideologien, um Problemerörterungen, also um Argumentations- und Urteilsfähigkeit ging. Er wich reinen Textanalysen, die nach einer Art Algorithmus abzuarbeiten waren und Erwartungsbildern folgten, die zwar ans germanistische Oberseminar erinnerten, eigentlich aber nur halbverstandene Begriffe ventilierten, indem sie etwa Stilfiguren aufspürten, ohne deren genaue Wirkung nachvollziehen zu können. Diese Abschlussarbeiten lesen sich, als erfüllten sie eine Art Regelpoetik, die etwas aussagt, was dem Schreiber selbst eigentlich nicht ganz klarwerden will. Innerhalb sogenannter Kreativaufgaben fanden es die postachtundsechziger Deutsch-Didaktiker etwa schick, Kurzgeschichten „weiterschreiben“ zu lassen, deren Enden immerhin doch vom Autor bewusst als Ende gesetzt waren.
Irgendwann gab es dann nicht mal mehr Lesebücher, weil sich doch alles viel besser in „integralen“ Lehrwerken vermitteln ließ. Noch interessanter war, dass das Verschwinden der Lesebücher, die über Jahrzehnte hinweg Generationen von Schülern den Eintritt in die Literatur ermöglichten, überhaupt niemand bemerkte, geschweige denn problematisierte. Es gibt zum plötzlichen Aussterben der Lesebücher im deutschen Feuilleton nicht einen einzigen Beitrag. Man sagte sich wohl: Brauchen die älteren Schüler keinen Kanon mehr, dann die jüngeren auch kein Lesebuch. Wie einfach doch, wie modern! Moderne Pädagogik verschiebt überhaupt alles vom Inhalt auf die Methode, im Sinne der Illusion, der Schüler erschließe sich kraft seiner „Kompetenzen“ ohnehin das Wesentliche selbst. Man brauche, ja dürfe ihm keine Inhalte vermitteln. Die Folge ist ein skandalöser Verlust an Wissen und Allgemeinbildung.
In linken Foren wurde das Wort vom „Grammatikfaschismus“ erfunden, als diffamierender Ausdruck für das Bestreben, Schüler sollten nach wie vor regelkonform schreiben – mindestens im Sinne dessen, was die unsägliche Rechtschreibreform so an Regeln hinkonstruiert hatte, nachdem das Literarische beziehungsweise die literarische Bildung sich weitestgehend „dekonstruiert“ fand. Und aktuell sind die eifrigsten Reformer dabei, die Handschrift als antiquierten Überhang abzuschaffen, denn so, wie das Fräulein nicht mehr zum Diktat beim Diktator antanzen muss, bekommt ja auch kaum einer mehr einen Stift in die Finger, wenn überall eine Tastatur zur Hand ist. Überhaupt gab es schon kaum mehr eine Handschrift, denn mit dem Federhalter wurde seit längerem zuerst die Druckschrift erlernt, so dass viele Grundschüler längst schon schrieben, als hätten sie nur Daumen an der Hand und verfertigten eine Art Keilschrift. Vielen gelingt es von Hand kaum mehr, überhaupt noch eine gerade Zeile hinzubekommen. Aber sie verfassen ganz flott agrammatischen Print.
Weil in Ergebnis einer banausigen Bildungspolitik immer mehr immer weniger verstehen, gelten mittlerweile „Texte in einfacher Sprache“ als Ausdruck von Verständnisgerechtigkeit. Fatalerweise meint man, jeder Inhalt lasse sich versimpeln, auch in wissenschaftlichen und politischen Texten, so dass endlich jedem „kulturelle Teilhabe“ ermöglicht sei. Dass genau damit Demokratiefähigkeit infrage gestellt und einem Sprachpopulismus Vorschub geleistet wird, scheint den Bildungspolitikern überhaupt nicht bewusst.
Immerhin steht das Wort Muttersprache noch nicht in einem so schlimmen Verdacht wie das Wort Vaterland, aber die Inhalte, das Spektrum und die Anforderungen des Faches Deutsch wurden über Jahrzehnte ausgedünnt und degradiert. Infolgedessen kommen gegenwärtig jene als Deutschlehrer an die Schulen, die den kaputtreduzierten Deutschunterricht selbst durchliefen und ganz folgerichtig gravierende Probleme mit dem qualifizierten Lesen und Schreiben haben.
Kürzlich fiel das Problem an der Universität Duisburg-Essen Germanisten auf: „In ihren Seminaren vermitteln sie ihren Studierenden den Gegenstand der Sprache unter Aspekten der Lehr- und Lernbarkeit, um sie auf die baldige Schulpraxis vorzubereiten. Die Texte, die sie von Studierenden zu Gesicht bekommen, lösen bei ihnen zum Teil Erschrecken aus, sagen sie. Voßkamp (Dozent am Institut für Germanistik der UDE – H.B.) hat das Thema erst neulich in einer seiner Lehrveranstaltungen zur Sprache gebracht. In einigen Texten hätte es von Zeichensetzungsfehlern, lexikalischen und grammatikalischen Fehlern sowie erheblichen Defiziten in der Kasusbildung und Flexion gewimmelt. Grundlegende Sprachregeln würden nicht beherrscht. ‚Im Prinzip werden hier Standards nicht erfüllt, die am Ende der Sekundarstufe I – und eigentlich schon nach der 6. oder 7. Klasse – erfüllt sein müssen‘, sagt er und fügt hinzu: ‚Und das im Lehramtsstudium im Master im Fach Deutsch.‘ Dabei handele es sich nicht um Einzelfälle. Allein in seinem Seminar seien ihm in drei Texten erhebliche Sprachdefizite aufgefallen. ‚Es ist ein gravierenderes Problem, als man anfänglich denkt‘, so Voßkamp.“
Man hätte das so leider erwarten müssen. Woher denn sollten befähigte Deutschlehrer kommen, wenn nicht aus einer Schule, deren Ziel darin besteht, regelsicheres Schreiben auszubilden? Solche Schulen gibt es in Deutschland nach den kulturellen Bestandsverlusten der letzten Jahrzehnte nicht mehr. Nirgendwo. Sie hätten Anforderungen zu stellen, die gemäß Rahmenrichtlinien gar nicht mehr zu stellen sind. „Leistungskurs Deutsch in einfacher Sprache“, das wäre eine Idee, die die Kultusbürokraten derzeit begeistern würde, keinesfalls aber eine als konservativ geltende Rückkehr zum einstigen Standard.