21. Jahrgang | Nummer 2 | 15. Januar 2018

Rilke im Regen

von Renate Hoffmann

Es war die Sprache, die schwebende, schwingende, feingestimmte Sprache, die mich anzog. Und es waren die zehn „Duineser Elegien“ des Rainer Maria Rilke (1875–1926). Sie bewogen mich, nach Duino zu reisen. – Man sagte ihm nach, dem Unruhigen, Getriebenen, dass er beim Schreiben oftmals von äußeren Umständen abhängig gewesen sei und eine Landschaft schätzte, die gleichermaßen Ruhe und eine gewisse Großartigkeit bot. Dies trifft zu für des Dichters Aufenthalt im spanischen Ronda. Dort entstand im Winter 1913 ein Teil der Sechsten Elegie. Wenn man vom Zimmer 208 unterm Dach des Hotels „Reina Victoria“, das Rilke damals bewohnte, Ausschau hält, so bestätigt sich, was er in einem Brief schreibt: „Wenn ich am Morgen aufwache, so liegt vor meinem offenen Fenster im reinen Raum, das Gebirge.“ Hinter dem schmalen Hotelgarten, in dem Rilkes Skulptur steht, stürzt ein Felsen tief hinunter. – Ruhe und Erhabenheit. Wie ähnelt der Eindruck dem des Schlosses Duino.
Um es zu erreichen, nehme ich den „Sentiero Rilke“, den „Rilke-Wanderweg“. Er führt von Sistiana (unfern von Triest im italienischen Friaul) über die Karst-Klippen bis hinauf zum Neuen Schloss. Es regnet. Seit Tagen. Still und dauerhaft. Linkerhand, weit unten und bis zum Horizont gedehnt, begleitet das Adriatische Meer den Wandersteig. Es wellt grau und betrübt über den heutigen Verlust seiner gepriesenen Bläue.
Das Karstgestein hat wilde Formen ausgebildet. Einem Wasserfall gleichend oder wie Arme gespenstisch emporgereckt. Die Wasserlachen auf dem Weg sind kaum zu umgehen. Man ist versucht, eine Elegie über die Duineser Pfützen zu schreiben.
Je höher hinauf, desto stärker stürmt der Wind. Er jagt die Wolken und zerrt an den Büschen und wirbelt eine Handvoll Möwen durch die Luft. Dann zeigt es sich. Das Schloss Duino, wagehalsig vorgeschoben auf einem Felssporn. Mit seinem leuchtenden Gelb zerteilt es das Grau des Tages. – Rilke soll den Pfad oft gegangen sein. Hier habe er auch, so sagt man, die Eingebung für die Elegien empfangen. Er kam, gestürzt in eine Lebens- und Schaffenskrise, am 22. Oktober 1911 nach Duino und blieb bis zum 9. Mai 1912. Wer ihm die Zuflucht gewährte, war die Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe (1855-1934). Beider Bekannt- und Freundschaft begann durch Vermittlung des Schriftstellers und Philosophen Rudolph Kaßner (1873-1959) in Paris. Rilke widmete ihm später die Achte Elegie.
Marie, hochgebildete Frau und Mäzenin, bei der sich in Paris Persönlichkeiten aus der Kunstszene trafen, erkannte Rilkes Seelennot, nahm ihn mit nach dem väterlichen Anwesen in Lautschin (Tschechien) und bot ihm 1911 den Aufenthalt in Duino. Das Schloss war und ist im Besitz der Familie Thurn und Taxis.
Da ging er also über die Klippen, und der verzweifelte Schrei, der letztlich aus seinem Inneren drang, sei ihm von Wind, Wetter und Wolken zugetragen worden: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel / Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme / einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem / stärkeren Dasein …“ Mit diesen Worten beginnt die Erste Elegie. Ausweglosigkeit spricht aus jeder Zeile. Wie im Rausch geschrieben – einem befreienden Rausch? – entstehen die ersten beiden Elegien im Januar und Februar des Jahres 1912 unter Maries fürsorglicher Obhut. An die verständnisvolle, einfühlsame Begleitung der Dichtung durch sie erinnernd, sind ihr die Elegien zugeeignet. Als sie, oft unter Schmerzen, im Februar 1922 vollendet sind, schickt Rilke der Fürstin eine Abschrift und legt das Werk in ihre Hände: „Denn ich kann Ihnen nicht geben, was Ihnen, seit Anfang, gehört hat.“
Der Dichter sah in den Elegien den Höhepunkt seines poetischen Schaffens; sie hatten ihm die Offenbarung eines, seines metaphysischen Weltbildes abverlangt. In ihm fließen Wirklichkeit und Unwirklichkeit zu einem großen Ganzen zusammen. Verwoben darin ist das menschliche Dasein mit Überschwang und Verzweiflung und mit dem tiefen Blick in die Wunder der Schöpfung: „Feigenbaum, seit wie lange schon ist’s mir bedeutend, / wie du die Blüte beinah ganz überschlägst / und hinein in die zeitig entschlossene Frucht, / ungerühmt, drängst dein reines Geheimnis …“ (aus der Sechsten Elegie) – Rainer Maria Rilke kann das Unsichtbare sehen und das Unsagbare sagen. Man spürt das Ringen um jedes Wort und jeden Satz. Und steigt Stufe um Stufe hinab in seine verborgenen Welten.
Zum Ort mit „poetischem Mythos“, dem Schloss. Die exponierte Lage nutzten bereits die Römer für aggressive Absichten und errichteten einen Kontrollturm. Die Überreste finden sich als Einbauten im Hauptturm des Schlosses wieder. Es beeindruckt durch Wehrhaftigkeit, sein Alter durch trutzige Mauern und Zinnenkranz herausstellend. Betagt und doch jüngeren Datums. Aus der düsteren Burganlage wurde ein fürstliches Renaissanceschloss, es erlitt im Ersten Weltkrieg schwere Schäden. Die Familie Thurn und Taxis (della Torre e Tasso) sorgte für eine umfassende Erneuerung. Was den Mitgliedern über die Zeiten hinweg zu eigen war, ist die Aufgeschlossenheit für soziale und kulturelle Belange. Und das Mäzenatentum. So soll Pagano della Torre im 14. Jahrhundert Dante Alighieri während des Exils zeitweilig aufgenommen haben.
Im 19. Jahrhundert sind es zwei Damen, die dem Ruf ihrer Vorfahren Ehre erweisen. Theresa von Thurn-Hofer-Valsassina und Maria von Thurn und Taxis-Hohenlohe. Mutter und Tochter. Beide gewandt in vielen Sprachen, von Bildung, musisch begabt und großzügig im Denken und Tun. Schloss Duino öffnete seine Tore neben anderen für Franz Liszt, Richard Strauß und Paul Valéry, Victor Hugo und Mark Twain, Hugo von Hofmannsthal, Gabriele d’ Annunzio und Sigmund Freud. Und Rainer Maria Rilke, der den Winter 1911/12 mit Marie als die „bewegendsten Monate“ empfand. Im Schloss begegnet man ihm allenthalben. Briefschaften, Fotos, der Schriftzug, eine Grafik seines markanten Profils.
Über eine ovale, spiralförmig gewundene Treppe, die dem Architekten Andrea Palladio (16. Jahrhundert) zugeschrieben wird, gelangt man in die Salons und Galerien. Musikinstrumente, Porträts, Porzellane, stilvolle Möbel und Erinnerungsstücke aus dem Familienbesitz. Darunter ein Kinderlehnstühlchen für die kleinen Thurn-und-Taxisse. Schimmernde Kronleuchter aus Murano, und die mit kostbarem Tischgerät gedeckte Tafel im Speisesaal. Die Terrasse. Rilkes bevorzugter Verweilort. Der Ausblick vereint Himmel, Meer und fernes Land und weitet die Seele. – Durch den gleichmäßig fallenden Regen wandere ich zurück nach Sistiana.
„Wer hat uns umgedreht, daß wir, / was wir auch tun, in jener Haltung sind / von einem, welcher fortgeht? Wie er auf / dem letzten Hügel, der ihm ganz sein Tal / noch einmal zeigt, sich wendet, anhält, weilt –, / so leben wir und nehmen immer Abschied.“ (aus der Achten Elegie)