21. Jahrgang | Nummer 3 | 29. Januar 2018

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Berliner Theater-Extreme – Castorf-Inszenierung bis nachts halb zwei, Abrisstheater am Kudamm…

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Frank Castorf als neuerdings „freischaffender Dienstleister“, der über Land reist, machte in Berlin erstmals jenseits der Volksbühne Station im Berliner Ensemble. Dabei tat er das, was er schon immer gern tut: Rekorde sprengen. Sieben Stunden plus 30 Minuten Pause für eine Meditation über Victor Hugos Riesen-Roman „Les Misérables“ („Die Elenden“). Auf Druck der Intendanz und des flüchtenden Publikums gibt es – neben einer Acht-Stunden-Version plus Begleitprogramm – neuerdings eine „Kurz-Fassung“, bei der nach sechs Stunden einschließlich Pause Schluss ist.
Wie auch immer: Was für eine Tour – und Tortur. Eine kreischende, brüllende, schwindelerregende Achterbahnfahrt. In ihren Kurven saftige Szenen aus dem Auf- und Abstieg des Galeerensträflings Jean sowie den sexuellen und sonstigen Überlebenskämpfen wie -krämpfen der um ihn herumtobenden Figuren. Dann wieder vertrödelte Geradeausfahrten mit länglichen Erörterungen der sozialen Frage (Ausbeutung, Sklaverei, Aufstand, Revolution) sowie weit gespannten philosophischen, psychologischen, kultur- und kunsttheoretischen Exkursen auf den vielen, vielen Rastplätzen. Dazu reichlich Video, weniger Popmusik, dafür umso mehr Latino-Rhythmen. Denn Castorfs albtraumhaftes Zickzack durch Hugos politisch-ethisch grundierte Monumental-Soap findet kaum in Frankreich statt, sondern überwiegend auf Kuba. Dafür hat Castorf einen Klassiker der lateinamerikanischen Literaturmoderne ins französische Liebes-und Abenteuerspektakel implantiert: nämlich den Roman „Drei traurige Tiger“ von Guillermo Cabreo. So werden Hugos Figuren vom nachrevolutionären Paris der Restauration von 1848 versetzt ins vorrevolutionäre Havanna von 1958. Tollkühn gedacht, aber letztlich ohne sonderlichen Erkenntniszuwachs bezüglich der programmatischen Bemerkung Hugos, dass soziale Verdammnis künstlich Höllen schaffe inmitten der Zivilisation.
Die Location von Aleksandar Denic auf Drehbühne ist ein auf zwei Etagen getürmtes Chaos aus Stuckfassade, Stacheldraht, Salon, Polizeistation, Knast, Kneipe, Kramladen – immerhin ein signifikantes Stück Welt. Da hinein kippt Castorf jede Menge tolle szenische Einfälle, hetzt seine Spieler bis dicht ans Koma. Wahnsinnsarien, Kampf-Duette, wüste, auch witzige Extempores. Und Momente der Innigkeit, der Trostlosigkeit. Immerzu Entgrenzung, mal ins Schöne, meist ins Schreckliche. Man hätte in vier Stunden locker damit fertig sein können – es wäre womöglich grandios geworden. Doch dann eiert der ach so beträchtliche, schier ins Unendliche wuchernde Rest nur noch so dahin mit kryptischen Ausflügen durch die Höhen und Tiefen vom Castorf-Hirn. Oder mit Wiederholungen, Plattheiten, Agitprop-Tiraden. Also quälende Redundanz. Und Pustekuchen hinsichtlich Sinnzusammenhang, Verständlichkeit, Figurenzeichnung.
Castorf sagt, Hugos 1500-Seiten-Wälzer habe was von einem „endlosen Gedicht“. Er nahm es nervend wörtlich. Dabei kapieren wir das ewig Aktuelle spätestens nach zwei Stunden: Nämlich das Problem der Gerechtigkeit. Und das mit dem menschlichen Ego und Wahn.

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Die Tage sind gezählt, der Abriss naht, und die altehrwürdigen Kudammbühnen – „Komödie“ und „Theater“ – werden vereint umziehen ins Schillertheater. Es wird dauern, bis am seit einem Jahrhundert angestammten Ort Berlin, Kurfürstendamm 206, ein von beiden Bühnen gemeinsam zu nutzendes, neues Theaterhaus stehen wird – im Souterrain eines Riesengebäudes vornehmlich für Handel, Büro, Spielcasino.
Am 6. Mai ist Schluss im Kudammtheater; zuvor großer Kehraus. Mit einem Liederabend „Das Wunder vom Kudamm“, dem Einmann-Klassiker „Der Entertainer“ – Peter Lohmeyer gibt den liebend und schmerzlich vom Theater besessenen Unterhalter. Und mit Katharina Thalbachs das Herz entzückenden, die ganze Welt des Theatermachens im Triumph umarmenden Inszenierung „Der Raub der Sabinerinnen“.
Bis zu diesem sinnfälligen Finale gibt’s im Foyer der Komödie die Ausstellung „Boulevard Berlin – Ein Jahrhundert Komödie am Kurfürstendamm“. Das schöne Projekt, gemeinschaftlich entstanden mit der TheaterGemeindeBerlin und der Stiftung Stadtmuseum, demonstriert – vornehmlich durch eine Fülle von Fotos – ein feines Stück Berliner Theatergeschichte und wirft die Frage auf, warum es erst eines solchen traurigen Anlasses wie dem Abriss von Theatern bedarf, diese Geschichte publik zu machen. Überhaupt ist es ein Unding, dass die Hauptstadt ihre immerhin weltbedeutende Geschichte der darstellenden Kunst (die ja hier besonders aufschlussreich ans Gesellschaftliche gebunden ist) im Wesentlichen noch immer unter Verschluss hält.
Am Kudamm fing es mit Theater an, als Imperator Max Reinhardt sein Bühnenreich Anfang der 1920er Jahre in den aufstrebenden Westen Berlins auszudehnen gedachte. Ein Einbau eines Kinos in einen Gebäudekomplex scheiterte anno 1923 und gab Reinhardt eine Chance: Er kaufte, investierte so mutig wie beträchtlich und beauftragte den Stararchitekten Oskar Kaufmann, dessen Kleinod Renaissancetheater noch heute unbeschädigt in der Hardenbergstraße prunkt, mit der Verwandlung des Raums in ein intimes, elegantes Saaltheater mit zweigeschossigem Logenkranz, aufwändig dekoriert mit edlem Material im Stil des Art déco. Der bewusst imposant mit viel Licht gestaltete Haupteingang gleißte am Kudamm.
Die „Komödie am Kurfürstendamm“ etablierte sich im Luxus-Segment als anspruchsvolles Unterhaltungs-Startheater für die gehobene Bürgerwelt. Übrigens, den „normalen“ Abendvorstellungen folgten zwischen elf Uhr nachts und zwei Uhr morgens die so besonderen, schnell ruhmreichen Kabarett-Revuen – die, wiederentdeckt, noch heute begeistern.
Nach einjähriger Bauzeit – so fix ging das damals – wurde im November 1924 bei saftigen Kartenpreisen (Reinhardt-Bühnen waren alle teuer!) die „Komödie“ mit großem Tamtam eröffnet mit Goldonis Commedia dell‘ arte „Der Diener zweier Herren“ – ein gesellschaftliches Ereignis, das selbst Regierungsmitglieder sich nicht entgehen ließen.
Fortan spielte hier beinahe alles, was Rang und Namen hatte im Theater der Reichshauptstadt. 1934 emigrierte Reinhardt; Hans Wölffer übernahm das Haus, bis es 1943 durch Bomben beschädigt wurde. Erst 1951 konnte Wölffer die Komödie erneut übernehmen; 1963 das Kudamm-Theater dazu. Er, sein Sohn Jürgen und die Enkel Christian (verstorben) und Martin machten im Familienverband den Kudamm-Bühnenboulevard zum Markenzeichen groß und hielten ihn hoch trotz diverser Schwierigkeiten in der Nachwendezeit.
Übrigens: Als Extra der Fotogalerie werden unter Glas einige Preziosen erstmals öffentlich gezeigt: handgezeichnete Kostümfigurinen und Bühnenbildentwürfe. Dazu ein originaler Parkettsessel aus der Erstausstattung. Ein Gruß von (an) Oskar Kaufmann – sehr berührend.
Dazu passen zwei Fotos: Eins von Mitte 1920 mit der Fassade Kudamm 206 und dem strahlenden Lichtfächer überm Eingang zur Komödie. Daneben ein Foto von 1951. Die Komödie spielte wieder seit März 1946, als Achim von Biel das rasch wieder hergestellte Haus im März 1946 mit Schillers „Kabale und Liebe“ wiedereröffnet hatte. Aber das Foto zeigt die noch stehende, freilich fensterlose Fassade des Vordergebäudes mit seiner feingliedrigen Stuck-Dekoration. Man hätte sie retten können. Wie man die historischen Kudammbühnen hätte unter Denkmalsschutz stellen können. Stattdessen erst Abriss der schönen Art-déco-Fassade für eine einfältige Nachkriegsmoderne (Architektin Sigrid Kressman-Zschach); jetzt deren Abriss einschließlich beider Theater. Soviel zum Sinn der Stadt für ihre Kulturgeschichte.
Übrigens, auch hätte man mit mehr Sinn fürs Erbe die Kaufmannsche Innenarchitektur der Komödie denkmalgerecht sanieren können. Offen gestanden, der jetzige Zustand, den womöglich viele für original 1924 halten, ist bloß ein fader, plüschiger Abklatsch der kostbar kunstvollen Arbeit Kaufmanns. Um den Verlust zu begreifen, genügt ein Blick in die Archive – oder ins Renaissancetheater. Doch wir blicken erwartungsvoll nach vorn auf die Bismarckstraße und die Interims-Ära im Schillertheater. Womöglich findet dort, im deutlich größeren Gehäuse, der Kudamm-Boulevard zu neuartigen Formen und Formaten – Marke Bismarckstraßen-Boulevard.